Das qualitative Interview. Manfred Lueger

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Das qualitative Interview - Manfred Lueger

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2000; Gubrium et al. 2012; Reichertz 2016; Akremi et al. 2018; Bohnsack/Geimer/Meuser 2018; Denzin/Lincoln 2018). Trotz dieser enormen Verbreitung bestehen immer noch viele Missverständnisse darüber, was qualitative und insbesondere interpretative Sozialforschung ausmacht, und auch bei der Durchführung der Interviews zeigen sich vielfach Schwierigkeiten bei der Auswahl eines in Hinblick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse angemessenes Vorgehen sowie bei der Interpretation des Materials:

      •Manche sehen qualitative Interviews noch immer als exploratives Vorgehen für nachfolgende quantitative Überprüfungen an, was die spezifischen Stärken solcher Gespräche, nämlich die Erkundung von Handlungs- und Systemlogiken in sozialen Systemen, die Gründe für die Entwicklung spezifischer Handlungsweisen in einem sozialen Feld und die spezifischen Dynamiken der Strukturierung komplexer Sozialsysteme, aus dem Blickfeld verschwinden lässt. Aus diesem Grund ist es nach wie vor wichtig, die Eigenständigkeit und Charakteristik einer qualitativ orientierten Durchführung und Analyse von Gesprächen im Rahmen angemessener Forschungsstrategien aufzuzeigen.

      •Vielfach wird qualitative Forschung mit der Erkundung subjektiver Meinungen von Menschen gleichgesetzt. Qualitative Analyseverfahren beruhen zwar auf der Kreativität der Interpret*innen und stellen die Subjektivität der Akteur*innen in Rechnung, jedoch ist Subjektivität ein Forschungsgegenstand qualitativer Analyse (unter anderen), aber kein Merkmal der Analyse. Insbesondere interpretative Forschung befasst sich mit den Bedingungen der Möglichkeit von Beobachtungen und Handlungen in sozialen Situationen sowie mit der Struktur und Entwicklungsdynamik sozialer Felder. Das hat wenig mit Subjektivität zu tun, aber viel mit den Kontextbedingungen, komplexen Interaktionen zur Formung kollektiven Wissens sowie objektiv-latenten Sinnstrukturen, welche die Ereignisse und Prozesse besser verstehbar machen. Es ist daher wichtig, Verfahrensprinzipien der Gesprächsführung und qualitätssichernde Maßnahmen zu thematisieren.

      •Für die Gesprächsführung ist es noch immer nicht Forschungsstandard, die Vorgangsweise auf den Gegenstandsbereich und das Erkenntnisinteresse abzustimmen, sondern meist wird ein Verfahren und eine Interpretationsstrategie herausgegriffen, das bzw. die man sich irgendwann angeeignet hat, und für alle Zwecke verwendet. Aber Gesprächsstrategien haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, welche die wissenschaftliche Arbeit befördern oder beeinträch-[8]tigen können. Insofern ist die Entscheidung und die Ausarbeitung einer Gesprächsstrategie noch immer ein vernachlässigter Teil der methodischen Vorgangsweise, die daher eine genauere Betrachtung verdient.

      •Meist wird auch der Aufwand, den die Arbeit mit qualitativen Interviews mit sich bringt, massiv unterschätzt. Dahinter steckt nicht selten die irrige Annahme, es genüge für qualitative Analysen, mit Menschen zu sprechen und deren Aussagen zusammenzufassen. Dies trägt vielleicht zum Alltagsverständnis bei, lässt jedoch das analytische Potenzial qualitativer Analyseverfahren brachliegen. Meist sind es nicht die vordergründigen Aussagen, die ein Verständnis von sozialen Systemen ermöglichen, sondern die sorgfältige Analyse von Struktur und Entstehungsbedingungen von Gesprächsaussagen. Und dafür benötigt es ausgefeilte Strategien der Erhebung und der Analyse.

      Die neueren Entwicklungen sowie die Erfahrungen bei der Anwendung von Interviews in der Forschung machen daher eine Neubearbeitung dieses Buches erforderlich. Dabei soll jedoch die ursprüngliche Zielsetzung nicht aus den Augen verloren werden, nämlich in einer knappen Form eine methodische Einführung zu bieten, die sich an den zentralen Leitlinien einer qualitativen Sozialforschung orientiert und die praktische Umsetzung nicht vernachlässigt.

      Die vorliegende Bearbeitung weist daher eine Reihe von Erweiterungen auf, die insbesondere die praktische Umsetzung erleichtern sollen. Das sind vor allem:

      •Zwei neue Abschnitte, die sich mit der Entscheidungsfindung über die geeignete Gesprächsstrategie für ein Forschungsvorhaben sowie mit den Grundprinzipien verschiedener Arten der Interviewführung befassen. Dies sollte es erleichtern, selbst im Forschungsprozess eine angemessene Strategie zu entwickeln, wofür auch die weiteren Ausführungen zu den Gesprächsphasen Hilfe anbieten. Daher ist in diesem Abschnitt verstärkt ergänzende Literatur zu den verschiedenen Interviewverfahren angeführt.

      •Da die Interpretation von Texten eine Art Kunstlehre darstellt, ist es schwierig, die konkrete Durchführung aus einer Beschreibung abzuleiten. Während die 1. Auflage des Buches nur ein Beispiel für die Feinstrukturanalyse enthielt, werden nunmehr drei weitere Verfahren (Systemanalyse, Codestrukturanalyse, Themenanalyse) anhand von praktischen Beispielen erläutert, um die Interpretationsschritte leichter nachvollziehbar zu machen.

      •Darüber hinaus wurde die Codestrukturanalyse in Anlehnung an die Grounded Theory weiterentwickelt, sie ergänzt den Spielraum der vorgestellten Interpretationsverfahren um eines, das sich stärker auf die im Text nachvollziehbaren Strukturen konzentriert.

      •Die zusammenfassende Analyse wird als Ergänzung nur kurz angeführt, weil sie in genuin qualitativen Forschungsstrategien eine randständige Rolle einnimmt und zudem die Interpretation bestenfalls eine marginale Rolle spielt. Dennoch ist eine solche Vorgangsweise für manche Zwecke sinnvoll und bereitet auch den Übergang zur quantitativen Analyse vor.

      [9]Die Basis unserer Überlegungen zu dieser Arbeit bilden sowohl methodische und methodologische Arbeiten zu diesem Bereich als auch empirische Erfahrungen speziell mit Organisationsanalysen. Kritische Diskussionen im Rahmen von empirischen Studien sowie Seminarerfahrungen inner- und außerhalb der Universität waren für uns überaus hilfreich bei der Entwicklung der praktischen Richtlinien zur Erhebungs- und Interpretationstechnik. Zu erleben, wie Forscher*innen aus verschiedensten Disziplinen und Berufen mit heterogenen Interessenlagen (Vertreter*innen der Sozial- und Naturwissenschaften, der Betriebswirtschaft, Management, Beratung etc.) mit den hier vorgestellten Techniken umgehen, bestärkte uns im Bestreben, diese Analyseverfahren für unterschiedlichste Interessent*innen fruchtbar zu machen. Die dabei aufgetretenen Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung sensibilisierten uns auch für die Schwachstellen eines solchen Buches. Daher hoffen wir, mit der Überarbeitung den Zugang noch besser nachvollziehbar zu machen. Eines bleibt aber nach wie vor wichtig: Die Durchführung und Interpretation von Gesprächen ist kein Standardverfahren, sondern bedarf der Anpassung an die konkreten Forschungsgegenstände und Erkenntnisinteressen – und es braucht Erfahrung, die man sich nur im Zuge der eigenen Umsetzung der Verfahren aneignen kann.

      Dass nun diese völlig überarbeitete Auflage vorliegt, verdanken wir Mag.a Sabine Kruse, die uns sehr ermutigt hat, das doch sehr zeitintensive ,Überarbeitungsprojekt‘ durchzuführen. Ebenfalls bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei Mag.a Verena Hauser und bei Mag.a Sandra Illibauer-Aichinger für ihre überaus hilfreichen Anregungen zur Überarbeitung und für das sorgfältige Lektorat.

Ulrike Froschauer, Manfred Lueger Wien, im September 2019

      [11]

       1Einführung

       „Berücksichtigen Sie die Beschaffenheit der empirischen Welt und bilden Sie eine methodologische Position aus, um diese Berücksichtigung zu reflektieren.“

      (Blumer 1981: 143f.)

      Dieser Satz, mit dem Blumer einen Artikel über den methodologischen Standort des Symbolischen Interaktionismus zusammenfasst, kann als zentrale Richtlinie für die vorliegende Arbeit gelten. Vorgefertigte Theorien und Methoden sind demzufolge unzureichende Mittel, um die soziale Welt angemessen verstehen zu lernen. Hingegen lautet die zentrale Forderung, dass sich empirische Untersuchungen an die Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes anpassen müssen. Dies erfordert Dreierlei: erstens ein Grundverständnis über den möglichen Aufbau des fokussierten sozialen Systems, um überhaupt in die empirische Analyse

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