Das qualitative Interview. Manfred Lueger
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Im Gegensatz zur quantitativ orientierten Forschung besteht die Zielsetzung folglich nicht in der Prüfung vorgefasster Annahmen, sondern im Aufbau eines (meist fallorientierten) theoretischen Verständnisses eines Untersuchungsbereiches, wie etwa das sozialer Systeme. Viele Studien widmen sich einer solchen theoriegenerierenden Vorgangsweise, indem sie etwa
•die untersuchten Phänomene auf den kulturellen Kontext bezogen im Sinne einer dichten Beschreibung (vgl. Geertz 1991) durchleuchten (z. B.: Was bedeutet Durchsetzung im kulturellen Kontext eines Unternehmens?),
•aus dem untersuchten Bereich eine gegenstandsorientierte Theorie (vgl. Glaser/Strauss 2010: 50ff.) herausdestillieren (z. B.: Was sind typische Durchsetzungsstrategien in einem spezifischen Unternehmen?),
•aus einer umfassenden vergleichenden Studie vieler heterogener Fälle formale Theorien (vgl. Glaser/Strauss 2010: 93ff.) mit einem hohen Verallgemeinerungsgrad zu erstellen versuchen (z. B.: Wie lässt sich die Logik von organisationaler Durchsetzung unabhängig von einem spezifischen Fall verstehen?).
Soziale Systeme, deren Analyse in den folgenden Ausführungen im Zentrum steht, zeichnen sich durch ihre Grenzziehung aus. Dadurch bildet die Generierung gegenstandsorientierter Theorien mit der Möglichkeit einer Weiterentwicklung zu formalen Theorien den Analyseschwerpunkt. In erster Linie soll also ein im Rahmen einer Untersuchung fokussiertes soziales System durch die Analyse dem Verstehen zugänglich gemacht werden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit primär auf das theoretische Verständnis von Prozessen, Ereignissen, Differenzierungen oder Strukturierungen innerhalb des sozialen Systems, auf die Untersuchung der Gestaltung und Entwicklung der sozialen Beziehungen nach innen und nach außen zu relevanten Systemumwelten und auf die Erkundung von Zusammenhängen individuellen Handelns und kollektiver Dynamiken. Führt man solche Analysen im Sinne einer fallübergreifend vergleichenden Analyse weiter, so trägt dies zu immer tragfähigeren Verallgemeinerungen im Sinne der Entwicklung formaler Theorien bei. Dichte Beschreibungen spielen eine Rolle, wenn die spezifischen Bedeutungskontexte und subkulturellen Verankerungen von Sinnstrukturen innerhalb einer Fallstudie zum Tragen kommen. Insofern sind die drei Vorgangsweisen zwar miteinander verbunden, setzen aber spezifische Schwerpunkte in der Analyse und stellen infolgedessen unterschiedliche Anforderungen an die Sammlung bzw. Erhebung von Materialien und deren Interpretation.
Das kommunikative Fundament sozialer Systeme (siehe Abschnitt 7.2.1) macht die Durchführung von Interviews zu einem wichtigen Instrument organisationaler Reflexion. Es wäre jedoch völlig unzureichend, sich in der Textauslegung von den vordergründigen Gesprächsinhalten vereinnahmen zu lassen, weil diese nicht mit den Charakteristika des untersuchten Systems gleichzusetzen, sondern Ausdruck der kognitiven Verarbeitung von Systemprozessen sowie deren sprachlicher Ausdruck gegenüber einer (meist außenstehenden) anderen Person sind. Eine seriöse [18]qualitativ orientierte Vorgangsweise versteht daher Gesprächsaussagen als Manifestation sozialer Beziehungen und Verhältnisse, deren Regeln in der Selektivität der Mitteilungen zum Ausdruck kommen. Mitglieder eines sozialen Systems sind daher nicht bloß Expert*innen ihres Systems, sondern repräsentieren in ihren Aussagen das System und ihre Beziehungen zu diesem. Sie müssen dabei nicht alles verstehen und sie können je nach Gesprächssituation aus ihrer Sicht Dinge ansprechen, besonders herausheben, verändert darstellen oder verschweigen. Erst die Berücksichtigung dieser komplexen Dynamik erlaubt es, durch die Inhalte hindurch die Sinnstrukturierung des Systems erkennen zu können.
Diese Ausführungen lassen bereits erkennen, dass sich qualitative Forschungsstrategien nicht für alle Fragestellungen gleichermaßen eignen, sondern deren spezifische Stärken in der Analyse der Organisierung und Manifestation sozialer Prozesse, deren Entwicklungsdynamik und die ihnen zugrundeliegenden Sinnstrukturen liegen. Typische Themen könnten daher beispielsweise sein: Wie organisieren Familien die Beziehungen zu ihrer relevanten Umwelt? Woran orientieren sich Unternehmen bei ihrer Entscheidung über eine Unternehmensberatung? Wie und vor welchem Hintergrund wird ein bestimmtes Problem an einer Universität erzeugt, stabilisiert, verändert und bewältigt? Wie sind in einer Gemeinde die Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen geregelt? Nach welcher Logik entwickeln die Vereinsmitglieder ihre spezifischen Sichtweisen?
Eine theoriegenerierende Vorgangsweise macht es unmöglich, Forschungsfragen bereits am Beginn der Untersuchung endgültig zu präzisieren oder die Erhebung auf einen Teilbereich des Untersuchungsfeldes zu konzentrieren. Vielmehr erkundet die Forschung den allgemeinen Phänomenbereich (etwa die Organisation als Ganzheit, auch wenn nur ein Teilbereich interessieren sollte), wobei aus den erlangten Erkenntnissen sukzessive adäquate Fragestellungen, die Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes sowie dem jeweiligen Forschungsstand angemessene methodische Vorgangsweisen abgeleitet werden. Die gesamte Forschungsstrategie muss die Voraussetzungen für die Generierung neuen Wissens, dessen Prüfung, Erweiterung und Präzisierung schaffen. Auch das Ende eines solchen Forschungsverlaufes lässt sich nicht genau abschätzen, sondern hängt von der Stabilisierung des Wissens, d.h. von der Frage ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Erhebungen neue Erkenntnisse erschließen könnten. Die Dynamik der sozialen Welt findet insofern ihre Entsprechung in der Vorläufigkeit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.
Die Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien erfordert eine Forschungskonzeption, die den Anforderungen qualitativer Sozialforschung gerecht wird. Um die spezifische Vorgangsweise der Gesprächsführung in der qualitativ-empirischen Sozialforschung nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie Forschungsentscheidungen in diesem Sinne begründet werden, befasst sich dieses Kapitel mit mehreren Komponenten der Gesprächsvorbereitung und -führung: die Verankerung im Forschungskontext, Funktionen im Rahmen der Analyse, die Auswahl der Gesprächspartner*innen und angemessene Gesprächsstrategien. Den [19]Abschluss bildet ein kurzes Anwendungsbeispiel, welches die Grundidee des Ansatzes veranschaulicht.
2.1Das Forschungsdesign als Gesprächsrahmen
Qualitative Forschungsdesigns erfüllen drei Funktionen, die in den verschiedenen Phasen einer Studie verschiedene Anforderungen an eine adäquate Forschungsstrategie stellen:
•im Vorfeld der Planung und des Forschungseinstiegs schaffen sie die Voraussetzungen für die Durchführung einer Analyse;
•für die Forschungsabwicklung sehen sie Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Ergebnisse vor;
•zum Abschluss einer Studie machen sie das gewonnene Wissen verfügbar.
Eine nähere Beschäftigung mit dem Verlauf qualitativer Studien macht nachvollziehbar, welche Entscheidungen in den verschiedenen Forschungsphasen anfallen und welche Bedeutungen diesen für die Durchführung qualitativer Forschungsgespräche zukommen. Sinnvollerweise lassen sich hierbei vier Phasen unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009b):
a)Die Planungsphase
Diese erste Forschungsphase dient der gedanklichen Vorbereitung einer Studie, indem man sich mit den möglichen Anforderungen eines Forschungsfeldes vertraut macht. In ihr werden Lernpotenziale hergestellt und Rahmenbedingungen ausgelotet, die eine möglichst sinnvolle Sammlung oder Erhebung von Materialien sowie deren intensive Nutzung erlauben. Im Zuge dessen schafft man die organisatorischen Voraussetzungen für die Realisierung des Vorhabens.
In Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand sind Überlegungen nötig, welche unterschiedlichen Varianten des Zugangs möglich sind, welche Datenmaterialien man höchstwahrscheinlich für das Verständnis des Feldes braucht und wie man diese erhalten könnte.