Das qualitative Interview. Manfred Lueger

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Das qualitative Interview - Manfred Lueger

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Relevanzkriterien zu richten. Den anderen Pol bilden jene Gespräche, in denen die interviewende Person die Gesprächssteuerung übernimmt. In diesem Gesprächstypus werden in unterschiedlichem Maße die wichtigsten Vorgaben durch die Forscher*innen definiert (etwa durch einen vorgegebenen Frageraster). In diesem Sinne tendieren solche Gespräche zu einer stärker ausgeprägten Strukturierung bis hin zu Standardisierungen durch die Forscher*innen (im Fall vorformulierter Fragen und vorgegebener Antworten) und nähern sich dadurch den Anforderungen an quantitativ orientierte Forschungsarbeiten an.

      Der Unterschied wird deutlich, wenn man die beiden Extrempole jenes Kontinuums darstellt, auf dem sich die unterschiedlichen Formen der Gesprächsführung bewegen. Dabei repräsentieren etwa ethnografische, narrative und qualitative Interviews den genuin qualitativ orientierten Pol, der andere Pol ist am extremsten in [29]einem Fragebogen abgebildet (und spielt daher in der qualitativen Sozialforschung eine marginale Rolle). Leitfadeninterviews wären zwischen den beiden Polen anzusiedeln. Die nachstehende Abbildung 2 streicht die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden Vorgangsweisen heraus.

      Genuin qualitativ geführte Gespräche oder Interviews lassen sich nach diesem Schema als solche beschreiben, die sich in einer sehr offenen Weise einer nur grob umrissenen Thematik annähern und den befragten Personen einen sehr weiten Gestaltungsspielraum einräumen. Dadurch rücken Forscher*innen den Blickwinkel ihrer Gesprächspartner*innen in den Vordergrund und erhalten solcherart Hinweise auf deren Verständnis ihrer Lebenswelt. Im Zentrum solcher Gespräche steht die Frage: Was ist für die befragte Person wichtig? Die Forschungsinteressen müssen daher so verpackt werden, dass sie dieser zentralen Frage nicht zuwiderlaufen. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit genau diesen qualitativen Forschungsgesprächen.

      Quelle: Eigene Darstellung

      [30]

      Vor dem Hintergrund interpretativer Sozialforschung liegt der Schlüssel zum Verständnis von sozialen Systemen im Verstehen der individuellen und kollektiven Herstellung von Ordnung und somit von Sinn. Im Zentrum stehen kommunikative Prozesse der Generierung von Informationen, die in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet sind und zu einer geordneten Wissensstruktur zusammengefügt werden (siehe Abschnitt 7.2). Die Durchführung von Studien sozialer Systeme stützt sich daher auf mehrere Basiskomponenten:

      •die Analyse des sozialen Prozesses der Erzeugung von Sinn und die Inhalte dieses dabei generierten Wissens, das in irgendeiner Form stabilisiert und verfügbar gemacht werden muss (soziale Kognition);

      •die Erkundung der Folgen dieses Sinngenerierungsprozesses für die Strukturierung kooperativen Handelns in einem sozialen System (kommunikatives Handeln);

      •die Untersuchung der in der Entwicklung eines sozialen Systems auftretenden Differenzierungen und Strukturen, wobei die Einheit in dieser Verschiedenheit (Heterogenität und potenzielle Konfliktträchtigkeit) einen wichtigen Bezugspunkt bildet (Systemdynamik).

      In Forschungsgesprächen geht es nun darum, diese verschiedenen Komponenten zu erkunden. Der Gesprächsinhalt ist dabei nur eine Komponente, die das Benennbare bzw. das explizit Gewusste anspricht. Die Form des Sprechens und die im Kontext des Gesprächs beobachtbaren Vorgänge geben Auskunft über die beiden letzteren Komponenten, die für das Verständnis sozialer Systeme besonders wichtig sind. Aus diesem Grund ist für die Gesprächsanalyse nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern noch mehr, wie es gesagt wird und warum ein Gesprächsthema auf eine spezifische Weise abgehandelt wird (siehe Abschnitt 4.3).

      Befragte Personen gelten im Rahmen von qualitativen Forschungsgesprächen immer als Expert*innen: Sie sind Expert*innen ihrer Lebenswelt, deren lebensweltlicher Wissensvorrat, wie Schütz und Luckmann (1979: 133ff.) meinen, an die Situiertheit biografischer Erfahrungen des Subjekts gebunden ist und der Bewältigung alltäglicher Situationen dient. Um an diese Expertise heranzukommen, muss man mit den Menschen über ihre Erfahrungen und ihre Sicht der Dinge reden. Man kann aber noch weiter gehen, wenn man den Habitus ins Zentrum stellt, der als Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmatrix fungiert und solcherart ein generatives Prinzip der Praxis bildet (vgl. Bourdieu 1979: 169f.; 1987: 103f.). Das Verhalten von Menschen kann sich dieser Vorstellung zufolge ohne direkte Kommunikation aufeinander abstimmen, indem sich die Habitusformen von Menschen aufgrund ähnlicher Lebensumstände und -bedingungen homogenisieren. Individuelles Handeln ist somit keineswegs rein subjektiv, es ist aber ebenso nicht ausschließlich an objektive Gegebenheiten gebunden, sondern folgt dem in der Lebenspraxis anhand der Erfahrungen gebildeten Alltagsverstand. Wissen ist in den Habitus als strukturiertes Prinzip inkorporiert und wirkt generativ als strukturieren-[31]des Prinzip. Als praktisches Wissen kommt es in Gesprächen weniger in den Inhalten als in der Form des Sprechens und Argumentierens zum Ausdruck.

      Die Forschung schreibt den befragten Personen eine Expertise zu, die auf der ungleichen Verteilung von Wissen beruht und als Sedimentierung, Einlagerung und Verfügbarkeit von privilegierter Erfahrung gesehen wird. Dieses Wissen kann auch die Form eines abstrahierenden Wissens externer Spezialist*innen annehmen (etwa von Personen, die sich über Ausbildung, wissenschaftliche Betätigung, Literaturstudium oder distanzierende Betrachtung einen herausgehobenen Wissensstand über ein spezifisches Wissensgebiet – auch unabhängig von praktischen Erfahrungen – angeeignet haben). Dabei kann es sich um Spezialwissen oder um Reflexionswissen handeln.

      Allerdings ist im Rahmen einer Studie zu entscheiden, welches Wissen man für das Verständnis des fokussierten sozialen Systems benötigt. Drei Typen von Expertisen, die sich durch eine zunehmend abstrahierende Distanzierung vom praktischen Handlungswissen im Untersuchungsfeld auszeichnen, lassen sich dabei unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009a):

      a)Die systeminterne Handlungsexpertise: Das Wissen dieser Gruppe ist vorrangig Erfahrungswissen, das aus der Teilnahme an Aktivitäten im untersuchten System entstammt (Primärerfahrung; z.B. alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens). In der Regel ist es als implizites Wissen in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen eingelagert. In der Ausformung darauf aufbauender sozialer Praktiken zeigt sich die soziale Differenzierung in verschiedene Handlungsfelder und deren Zusammenspiel, weshalb diese Expertise für das tiefere Verständnis der Logik des Untersuchungsgegenstandes und zur Produktion neuer Erkenntnis unverzichtbar ist. Das Wissen der feldinternen Expert*innen ist extrem heterogen, weil auf Subjektebene die Sedimentierung von Erfahrungen durch den jeweils spezifischen lebensweltlichen Hintergrund und durch subjektive Relevanzstrukturen bedingt ist (z. B. Sozialisation, Positionierung in einer Organisation, privates Umfeld). Diesen feldinternen Expert*innen der Praxis wird im Forschungszusammenhang deshalb kein Laienstatus zugewiesen, weil nicht deren Alltagswissen relevant ist, sondern ihr Sonderwissen, das für erfolgreiches Handeln in spezifischen Bereichen sozialer Systeme erforderlich ist.

      b)Die feldinterne Reflexionsexpertise: Diese Expertise bezieht sich über das Handlungswissen hinaus auf größere Zusammenhänge (Primär- und Sekundärerfahrungen; z. B. Außendienstmitarbeiter*innen als Schnittstelle zwischen Unternehmen und wirtschaftlich relevantem Umfeld, Mitglieder des Betriebsrats als Vermittlungsinstanz, Akteur*innen im unternehmensrelevanten Umfeld). Dieses Wissen entwickelt sich in erster Linie dort, wo Akteur*innen auf die Berücksichtigung der Sichtweisen anderer Personen angewiesen sind und in ihren Interaktionen immer wieder systeminterne und -externe Grenzen überschreiten. Weil

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