Das qualitative Interview. Manfred Lueger
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c)Die Vorgangsweise in der Hauptforschungsphase
•Erster Zyklus: Auf der Grundlage der ersten Analyseergebnisse wurde mit dem Koordinator eine Vorgangsweise ausgehandelt, um entsprechend dem jeweiligen Analysestand nach bestimmten Kriterien Gesprächsrunden zu organisieren, die feldinterne Handlungs- und Reflexionsexpertisen betrafen. Solche Kriterien waren auf der Ebene von Handlungsexpertisen etwa Verbindungen in einem spezifischen Handlungsfeld oder direkte Kooperationsbeziehungen. Zur Aktivierung feldinterner Reflexionsexpertisen wurden in Einzel- und Mehrpersonengesprächen Organisationsmitglieder einbezogen, [38]die Schnittstellen zum unternehmensrelevanten Umfeld oder innerhalb der Organisation besetzten. Mit dieser Vorgangsweise sollten organisationsinterne Beziehungsstrukturen bereits in die Gesprächszusammenstellung eingehen. Konsequenterweise boten die Schilderungen, wie die Teilnehmer*innen einer Gesprächsrunde zu dieser gestoßen sind, den Gesprächseinstieg, um so die Kommunikationsbeziehungen in der Organisation zu (re-)konstruieren.
Im Sinne des theoretischen Samplings (vgl. Glaser/Strauss 2010: 61ff.) wurde dem weiteren Analysefortschritt gemäß versucht, verschiedene für das Verständnis der Organisationsdynamik jeweils sensible feldinterne Expertisen in den Gesprächen zu aktivieren: Beispielsweise fanden Gesprächsrunden mit Mitarbeiter*innen von Betrieben statt, die erst vor kurzer Zeit zum Unternehmensverbund gestoßen waren (Neulinge, Außenseiter), mit Mitarbeiter*innen alter Kernbereiche des Unternehmens (Unternehmenstradition), mit Mitarbeiter*innen in ausführenden Tätigkeiten (Ausloten der Stimmung) und mit besonders exponierten Führungskräften (Konfliktpositionen).
Den analytischen Kernbereich bildete in diesem Zyklus die Ermittlung der zentralen Konfliktlinien und der diesen zugrundeliegenden organisationalen Differenzen. Ferner wurde untersucht, woran sich die verschiedenen Gruppen im Unternehmen orientieren und wie sie ihre jeweils spezifische Argumentations- und Handlungsorientierung aufbauen. Die Gespräche dieser Phase blieben sehr offen, um einen möglichst gründlichen Überblick zu bekommen.
Zweiter Zyklus: Nach dieser ersten Phase der Gesprächsführung und Interpretation wurden nach einem Zwischenschritt zur Forschungsreflexion Gesprächsrunden für eine zweite Analysephase zusammengestellt, die nunmehr drei Funktionen erfüllen sollte: (a) die Ergänzung im Sinne der Differenzierung und der Überprüfung der Verlässlichkeit von bis dahin erhobenen Perspektiven und Interpretationen; (b) die Präzisierung der Dynamik der Auseinandersetzung zwischen den beiden im ersten Zyklus identifizierten Unternehmensphilosophien; (c) die verstärkte Orientierung an den Handlungsweisen der Organisationsmitglieder.
Im Gegensatz zum ersten Zyklus bildete nunmehr die Berücksichtigung struktureller Ähnlichkeiten im Sinne des theoretischen Samplings die zentrale Auswahlstrategie, um die Plausibilität der bisherigen Argumentation zu überprüfen. Die Gespräche dieses Zyklus zentrierten sich zunehmend auf die Wirkungen der Organisationsphilosophien im Unternehmen. Darüber hinaus wurde bei der Auswahl der Gesprächspartner*innen verstärkt darauf geachtet, ob sie in den Gesprächsrunden innerhalb einer Unternehmensphilosophie oder übergreifend zusammengesetzt wurden. Dazu kamen Mitarbeiter*innen aus Arbeitsbereichen, die entweder im Zentrum des Konfliktes standen oder sich in neutraler Distanz dazu hielten. Aufgrund der unterneh-[39]mensinternen Kommunikationsbarrieren zwischen manchen Bereichen verfügten die Gesprächspartner*innen in all diesen Fällen über ein hochspezialisiertes Handlungs- und Reflexionswissen.
•Dritter Zyklus: Neben letzten unternehmensinternen Klärungen wurden in diesem Zyklus nun auch externe Expertisen in Anspruch genommen, weil sich aufgrund der Analyse zwei Kontextbereiche als besonders relevant für das Verständnis des Falles erwiesen: ein Gespräch mit einem Branchenexperten (Erkundung der Branchenentwicklung) und ein Gespräch mit einem Experten für Finanzierungsfragen, weil diese Punkte in den Konflikten eine gewichtige Rolle spielten. Diese Gespräche sollten die spezifischen Rahmenbedingungen der Konfliktgenese und die Einbindung des Unternehmenskontextes in die Organisationsdynamik der Untersuchung zugänglich machen.
Insgesamt ist bei diesem Forschungsdesign festzuhalten, dass deutlich mehr Gespräche geführt wurden, als tatsächlich einer extensiven Sinnauslegung unterzogen werden können. Dies hat vorrangig zwei Gründe:
•Erstens ist es aus Gründen der Qualitätssicherung nötig, möglichst vielfältiges Material zu generieren, um eventuelle Abweichungen oder Besonderheiten in der Organisation aufspüren zu können. Gerade in den abschließenden Forschungsphasen ist es wichtig, jene Stellen zu sondieren, die den Ergebnissen widersprechen könnten.
•Zweitens wird in den Gesprächen auch Beziehungsarbeit geleistet; das gelingt aber nur, wenn man auf breiterer Ebene den Kontakt sucht.
Da aber faktisch immer nur wenige Interviews einer ausführlichen Analyse unterzogen werden, wurden die in Kapitel 5 angeführten Grundregeln berücksichtigt: Die Basis für die ausführliche Analyse bildete ein Aushandlungsgespräch mit dem Vorstand und ein Vorbereitungsgespräch mit dem Koordinator. Ausschnitte dieser Gespräche wurden Feinstrukturanalysen (siehe Abschnitt 5.1), die Gesamtgespräche einer Systemanalyse (siehe Abschnitt 5.2) unterzogen. Während im ersten Zyklus Feinstrukturanalysen insbesondere für die Untersuchung von Einstiegsphasen von Gesprächen sowie von Schlüsselstellen oder Resümeephasen ein zentrales Analyseverfahren bildeten, standen im zweiten und dritten Zyklus eher Systemanalysen sowie Themenanalysen im Vordergrund. Ein Schlüsselelement bei der Analyse bildete generell die Variation der Perspektiven, indem man verschiedene Sinnhorizonte organisationalen Wissens kontrastiert und daraus Normalitätsfolien für unterschiedliche Kollektive von Akteur*innen ermittelt, um auf diese Weise das Zusammenspiel sehr verschiedener Handlungsstrategien zu erkennen. Die systematische Differenzierung in unterschiedliche feldinterne Handlungs- und Reflexionsexpertisen macht es möglich, die Dynamik wechselseitiger Koordination zu verstehen.
Die Gespräche mit externen Expert*innen wurden entweder einer Themenanalyse unterzogen (siehe Abschnitt 5.4) oder einfach in Hinblick auf die manifes-[40]ten Aussagen zusammengefasst (siehe Abschnitt 5.5) und keiner weitergehenden Sinnauslegung unterzogen.
d)Ergebnisse der Studie
Im letzten Schritt bleibt zu klären, zu welchen Erkenntnissen diese methodische Vorgangsweise führte. Diese Frage soll abschließend auf drei Ebenen kurz erläutert werden:
•Die Studie konnte nachweisen, dass das ursprüngliche Interesse seitens des Unternehmens, nämlich eine elaborierte Informationsstrategie zu entwickeln, an einem völlig falschen Punkt angesetzt hatte. Da im vorliegenden Fall das Vertrauen zwischen dem Vorstand und der Belegschaft zerstört war, wurden alle Initiativen in ein spezifisches Organisationsverständnis integriert, das alle Versuche des Vorstands zur Informationsverbesserung vor einem negativen Szenario interpretierte und den Widerstand der Belegschaft weiter befeuerte. Allerdings konnte die Studie zeigen, wie dieses Misstrauen als Problemhintergrund entstand und welche Ereignisse und Handlungsweisen es erhalten und stabilisieren (Ansatzpunkte für die Bewältigung).
•Auf wissenschaftlicher Ebene ergaben sich eine Reihe von Ergebnissen mit grundlagentheoretischer Bedeutung: So zeigte die Analyse beispielsweise, wie die alltagspraktische Interpretation der Geschehnisse im Unternehmen eine Eigendynamik gewinnt, die sich der Kontrolle der Akteur*innen weitgehend entzieht. Die im Entwicklungsprozess ausgebildete Polarisierung zwischen zwei verschiedenen Sichtweisen