Das qualitative Interview. Manfred Lueger
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[35]Im Verlauf der Suche nach einer geeigneten Organisation wurden Gespräche mit einem Vorstandsmitglied eines größeren Produktionsunternehmens geführt, das von sich aus ein spezifisches Organisationsinteresse vorbrachte: Das Unternehmen laborierte – so die von den Vorstandsmitgliedern geteilte Sichtweise – an einem massiven Kommunikationsproblem zwischen Vorstand und Belegschaft. Die Belegschaft misstraute den Vorstandsinformationen, was von ausgeprägten Verständigungsproblemen und Konflikten mit enormen Reibungsverlusten begleitet war. Versuche, die Information besser zu strukturieren und mehr Informationen zu geben, haben die Beziehung zwischen Vorstand und Belegschaft jedoch weiter verschlechtert. Die Auftragsidee war nun, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, die es ermöglicht, Informationen im Unternehmen so zu verbreiten, dass sie von der Belegschaft als zuverlässig akzeptiert werden.
Damit ist ein Basisproblem interpretativer Organisationsforschung angesprochen: Die Akzeptanz dieser Sichtweise des Vorstandes würde heißen, dass man (a) die Problemdefinition des Vorstands übernimmt, (b) eine rein technische Natur des ‚Kommunikationsproblems‘ unterstellt und (c) auch gleich die Lösung für das Problem (geschicktere Kommunikationsstrategie) billigt. Eine solche Vorgangsweise wäre sozialwissenschaftlich unergiebig, weil man in diesem Fall nur externe Expertisen zu bemühen bräuchte, aber nichts über die Bedeutung des ‚Kommunikationsproblems‘, die Sichtweisen der Belegschaft, den Prozess des Entstehens und des Erhaltens des ‚Problems‘ erfahren würde. Dies käme einer einseitigen Instrumentalisierung der Forschung durch den Vorstand als Auftraggeber gleich. Damit war klar, dass man zu einer gemeinsamen Definition des Auftrags gelangen musste, welche den Ansatzpunkt für das ‚Problem‘ umdefiniert und der Forschung einen entsprechenden Freiraum gewährt, um auch das grundlagentheoretisch fokussierte Phänomen in seiner Vielfalt erfassen zu können. Die in der Folge ausgehandelte gemeinsame Fragestellung redefinierte das Ausgangsproblem des Vorstands so, dass sie sowohl dem Forschungsinteresse als auch dem Auftragsinteresse entgegenkam: Im Rahmen des Projekts sollte untersucht werden, welche Organisationsdynamik hinter den Spezifika der organisationsinternen Kommunikation steht. Dies sollte die Forschung aus einer politischen Funktion heraushalten, nämlich die Lösung für ein definiertes Problem zu liefern und dadurch die vorgegebene Problemdefinition und Problemlösung zu legitimieren. Die Forschung bot ‚nur‘ an, zu verstehen, warum und für wen das Problem ein solches ist, was dahinter stecken könnte und wo daher Ansatzpunkte zu finden sind, die eine adäquate Bewältigung des wahrgenommenen Problems versprechen.
Die Forschung wurde von zwei Personen durchgeführt. Diese Konstellation erforderte bereits in der Planung zwei Vorkehrungen für eine seriöse Abwicklung der Studie: (a) Eine spezifische Aufgabenverteilung, um die Durchführung der Erhebung wie auch die Interpretation des Materials abzusichern. Dies ließ sich nur umsetzen, indem eine Person schwerpunktmäßig die Gesprächsdurchführung übernahm, die zweite Person jedoch die Interpretation. In der Organisierung der [36]Orientierungsphase spielte darüber hinaus die unternehmensinterne Vermittlungsperson eine wichtige Entlastungsrolle. (b) Zusätzlich erhöhte ein externes Forschungsumfeld (in diesem Fall andere Forscher*innen, die für eine intensive Diskussion sorgten) das Forschungspotenzial und übernahm partiell Supervisionsfunktionen.
Methodisch wurde (neben Artefaktanalysen und begleitenden Beobachtungen) das Hauptaugenmerk auf Gesprächsanalysen gelegt, weil diese die Ansichten der Beteiligten einer diskursiven Betrachtung erschließen. Aufgrund der Bedeutung der Analyse von Kommunikationsprozessen und der sozialen Konfliktdynamik bei dieser Thematik sollten Gesprächsrunden mit mehreren Teilnehmer*innen die wichtigste Erhebungskomponente bilden.
b)Die Organisierung der Orientierungsphase
Grundsätzlich kann man sich bei einer solchen Thematik nicht auf externes Wissen verlassen, sondern es ist notwendig, das Wissen der Mitarbeiter*innen, d. h. die feldinternen Expertisen, für die Studie fruchtbar zu machen. In diesem Sinne wurde bereits im Vorbereitungsstadium der Studie mit dem Auftraggeber die Möglichkeit ausgehandelt, mit allen Mitarbeiter*innen (deren Einverständnis vorausgesetzt) Gespräche zu führen, ohne dass die Unternehmensführung in die Organisierung der Gespräche interveniert. Für die Forschung sind grundsätzlich alle Mitarbeiter*innen, egal ob Vorstand oder Mitarbeiter*innen auf unterster hierarchischer Ebene, gleichberechtigte Gesprächspartner*innen, die sich nur durch ihre spezifische Expertise unterscheiden.
Interpretative Sozialforschung geht davon aus, dass die Ergebnisse der Forschung nicht nur vom analysierten Gegenstand, sondern auch vom Zugang der Forschung zum Gegenstandsbereich abhängen. Die Positionierung der Forschung im Unternehmen ist daher ein besonders sensibler Punkt, weil sie jene Zuschreibungen beeinflusst, mit denen Forscher*innen im Unternehmen belegt werden (z. B. Abgesandte des Vorstandes) und die nachhaltige Effekte auf die Forschungsarbeit haben können (z. B. Kooperationsbereitschaft, Gesprächsklima). Deshalb wurden für die hier thematisierte Studie drei Positionierungselemente berücksichtigt:
•Es wurde ein Organisationsmitglied als Koordinationsstelle zwischen Forschung und Unternehmen gesucht. Diese Person sollte drei Anforderungen erfüllen: (a) aufgrund des Konfliktes zwischen Vorstand und Belegschaft sollte sie strukturell vom Vorstand distanziert sein (Abkoppelung der Forschung vom Vorstand als Auftraggeber); (b) sie sollte das Unternehmen zumindest grob überblicken und über relativ gute Kontakte zu möglichst vielen Unternehmensbereichen verfügen (feldinterne Reflexionsexpertise); (c) sie sollte nicht in aktuelle Konfliktlinien involviert sein (organisationsinterne Akzeptanz). Der letztlich ausgewählte Koordinator fungierte als zentrale Anlaufstelle für das Forschungsteam, verhandelte Forschungsentscheidungen und organisierte im Unternehmen die Forschungsaktivitäten.
•[37]Aufgrund der Konfliktsituation wurde allen an der Untersuchung teilnehmenden Personen Anonymität zugesichert. In diesem Sinne bezogen sich die Analyseergebnisse ausschließlich auf Strukturen und Prozesse der Organisation (und nicht auf Personen). Diese Anonymität wurde aufgrund der angespannten Situation (Konkurrenzprobleme am Markt) auch dem Unternehmen zugesichert.
•Um darüber hinaus Vertrauen zu gewinnen, wurde ausgehandelt, dass alle Mitarbeiter*innen die Möglichkeit bekommen, über die Ergebnisse informiert zu werden (Feedback). Als vertrauensbildende Maßnahme sollte dies eine einseitige Verfügung über die Ergebnisse verhindern.
Als erste Informationsbasis fungierten die mit dem Vorstand geführten Aushandlungsgespräche über die Forschungsarbeit, weil die Problemsicht und die Vorstellungen über mögliche Ergebnisse bzw. Problemlösungsstrategien wichtige Erkenntnisse über organisationsinterne Prozesse versprachen. Diese Gespräche fokussierten die Beziehungen zwischen verschiedenen (weltweit verstreut tätigen) Betrieben und internen Bereichen, wobei die Entwicklung des Gesamtunternehmens, die Geschäftsaktivitäten, die Unternehmensstrategien und die spezifische Problemlage im Unternehmen im Zentrum standen (feldinterne Reflexionsexpertise aus der Perspektive der Unternehmensleitung).
Als Informationsbasis zur Projektdurchführung fungierten Gespräche mit dem Koordinator als feldinterner Reflexionsexperte. Das Erstgespräch mit diesem erfüllte drei Funktionen: Erstens wurde das vorgesehene Projekt ausführlich besprochen; zweitens vermittelte dieses Gespräch eine Orientierung über die Struktur, die internen Differenzierungen und Besonderheiten der Organisation; drittens erfolgte eine Absprache über die konkrete Durchführung (mögliche Ansprechpersonen). Thematisiert wurde hierbei, worauf man achten könnte oder mit wem man sprechen müsste, wenn man das Geschehen in der Organisation und deren Funktionsweise verstehen