Das qualitative Interview. Manfred Lueger

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Das qualitative Interview - Manfred Lueger

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konträre Positionen vertreten oder ‚Grenzfälle‘ des sozialen Systems markieren. Diese Inklusion auf der Basis maximaler struktureller Variation bestimmt die Reichweite und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und klärt die Grenzen und Spezifika einer theoretisierenden Argumentation.

      •Das zweite Prinzip besagt, dass man Materialien der Analyse verfügbar machen sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die bisherigen Ergebnisse bestätigen. Mit dieser Strategie begibt man sich auf die Suche nach vergleichbaren Fällen und spricht mit Personen, deren Aussagen vermutlich zu ähnlichen Analyseergebnissen führen. Diese Inklusion auf der Basis der Unterschiedsminimierung dient der Prüfung bisheriger Annahmen. Dadurch versucht man Unschärfen der theoretisierenden Argumentation aufzuspüren, indem man genau jenen Bereich fokussiert, der mit den bisherigen Analysen bereits abgedeckt sein müsste. Identifiziert man dabei neue oder widersprüchliche Erkenntnisse, so deutet dies auf Probleme der Theoriekonstruktion hin, was eine genauere Erforschung spezifischer Teilbereiche bzw. die Modifikation der Ergebnisse erzwingt.

      Dieser schrittweise Einbezug neuer Materialien in die Analyse wird so lange fortgesetzt, bis sich die Interpretationen stabilisieren und weitergehende Analysen (nach dem Prinzip der maximalen Variation) keine neuen Erkenntnisse mehr bringen. Unter dieser Bedingung bezeichnet man die gewonnene theoretische Argumentation als gesättigt. Ab diesem Zeitpunkt würde der Aufwand [26]weiterer Analysen den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn beträchtlich übersteigen.

      Für die Analyse mittels Forschungsgespräche bedeutet dies, sich zumindest am Ende eines jeden Analysezyklus mit folgenden Fragen zu befassen:

      •Welche Erkenntnisse hat man bisher gewonnen und welche Lücken oder Unklarheiten lassen sich identifizieren?

      •Welche Strategien in der Auswahl der Gesprächspartner*innen eignen sich zur Beseitigung dieser identifizierten Analysedefizite?

      •Welche Modifikationen in der Gesprächsführung sind dafür erforderlich?

      •Inwiefern könnte die Art der Gesprächsführung die spezifischen Ergebnisse beeinflusst haben und wie lassen sich daraus resultierende mögliche Einseitigkeiten beseitigen?

      •Sind außer der Gesprächsanalyse eventuell andere Analyseverfahren zur adäquaten Bearbeitung der Forschungsanforderungen notwendig?

      •Sind die Mitglieder des Forschungsteams adäquat eingesetzt und gewährleisten sie sowohl die Anschlussfähigkeit zu den einzelnen Teilbereichen des untersuchten sozialen Systems als auch die Sicherung der Interpretationsqualität oder sind Umstrukturierungen im Team erforderlich?

      d)Die Ergebnisdarstellung

      Ohne Kommunikation der Erkenntnis leistet auch die brillanteste Untersuchung weder einen Beitrag zur Wissenschaft noch einen zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sozialwissenschaftliche Forschung muss daher anschlussfähig zu relevanten Bezugskollektiven gehalten werden. Berichte machen Ergebnisse zugänglich und setzen sie dadurch einer kritischen Rezeption aus. Für Forschungsarbeiten sind (neben der Gesellschaft allgemein) Angehörige des konkreten Untersuchungsfeldes (bzw. auch Auftraggeber*innen) und das Wissenschaftssystem primäre Adressat*innen. Speziell Letzteres zeichnet sich durch sein spezifisches (intern differenziertes) Erkenntnisinteresse aus und erhebt besondere Ansprüche an die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Folglich stellt sich hier die Aufgabe, die Thematik, die Vorgangsweise und das erlangte Wissen systematisch zu erläutern und Hinweise zu geben, die künftige Forschungsarbeiten auf ähnlichen Gebieten erleichtern. Das aus dem Produkt erwachsende Verständnis des Untersuchungsbereichs und die Anregung des Wissenschaftssystems sind die substantiellen wissenschaftlichen Leistungen (siehe Abschnitt 6.2). In diesem abschließenden Schritt lassen sich zwar keine Anforderungen an die Durchführung und Analyse von Gesprächen ableiten, jedoch an die Präsentation der aus diesen gewonnenen Erkenntnisse. Dabei sind folgende Fragen zu klären:

      •Wer sind die Adressat*innen einer Studie?

      •Welche Ergebnisse sind für die Adressat*innen (und nicht nur für das Forschungsteam) von besonderer Bedeutung?

      •[27]Welche Informationen über die Forschungsdurchführung sind erforderlich, damit die Adressat*innen den Ergebnissen vertrauen können?

      •Welchen Beitrag leistet die durchgeführte Studie für die Adressat*innen und inwiefern konnte die Wissenschaft auf diese Weise vorangetrieben werden?

      Der geschilderte Forschungsprozess ist vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt.

      Quelle: Eigene Darstellung

      Eine solche Vorgangsweise erfordert aufseiten der Forscher*innen eine hohe Ungewissheitstoleranz, weil sie sich vorweg nicht auf alle Eventualitäten einstellen können, keiner durchgehenden detaillierten Planung folgen können und ständig den Anforderungen des Forschungsprozesses entsprechend ihre Vorgangsweise ändern müssen. Folgende Punkte sind deshalb wichtig, weil sie erfahrungsgemäß immer wieder (mit negativen Folgen für die Forschungsqualität) übergangen werden:

      •Generell sollte man sich mittels sehr offener Vorgangsweisen das Feld in der inhaltlich und methodisch sinnvollsten Weise erschließen, dagegen Absicherungsstrategien oder stärkere Vorstrukturierungen (wie etwa Interviews mit persönlich bekannten Personen, genaue Leitfäden für die Befragung, zu starke Berücksichtigung der [28]Sichtweise der hierarchischen Spitze eines sozialen Systems) meiden, weil dies blinde Flecken eher verstärkt als überwindet.

      •Da gerade der Forschungszugang wichtige Einsichten in die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis sozialer Systeme gewährt, sind bereits die Erstkontakte zu einem sozialen System möglichst umfassend zu dokumentieren und einer besonders sorgfältigen Analyse zu unterziehen. Die ersten Analysen bilden das Fundament für die weitere Arbeit – und dieses Fundament sollte möglichst solide gestaltet werden.

      •Die Interpretation des Materials im Rahmen der zyklischen Hauptforschungsphase bildet den Schwerpunkt der Analyse. In den meisten Fällen mangelt es nämlich nicht an Material, sondern an der extensiven Auslegung ausgewählter Materialien und an systematischen Forschungsentscheidungen, die nur eine gewissenhafte Interpretation ermöglicht.

      •Für die Analyse sollte man grundsätzlich folgende Regel beherzigen: Langsamer ist schneller und informativer. Weil der Beginn einer Textinterpretation aufgrund der für die Analyse noch unbekannten Gesprächsdynamik die gewagtesten Schlussfolgerungen erzwingt (die den Blick erweitern), ist die erste Interpretationsphase eines Textes besonders gründlich durchzuführen (wobei die Feinstrukturanalysen den Systemanalysen oder Themenanalysen meist vorangehen).

      Die in der Literatur vorfindbaren Verfahren der Interviewführung bzw. die damit verbundenen spezifischen Techniken der Gesprächsführung lassen sich nach einem zentralen Differenzkriterium einordnen, nämlich wer vorrangig die Gesprächssteuerung übernimmt: Einen Pol bilden demnach Gespräche, die eine möglichst umfassende Strukturierung des Redeflusses durch die befragten Personen anstreben, wobei die interviewende Person die Funktion übernimmt, den Redeverlauf zu begleiten. Dies entspricht einer genuin interpretativen Sozialforschung, indem die Forscher*innen sich verstehend an der Logik der Befragten orientieren und durch

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