Geschichte der deutschen Literatur Band 4. Gottfried Willems
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1.4 Literatur und Modernisierung im 19. Jahrhundert
Die Welt wird modern. Die Modernisierung nimmt Fahrt auf und entfaltet eine Dynamik, die nach und nach das gesamte Leben verändert. Hier macht sie es leichter, da erschwert sie es, die einen läßt sie Karriere machen, die anderen stürzt sie ins Elend. So versetzt sie die Menschen bald in Begeisterung und bald in Angst und Schrecken. Und so arbeitet man sich unausgesetzt an ihren Folgen ab, sei es daß man sich im Sinne des Progressismus darum bemüht, den Fortschritt immer fortschrittlicher zu machen, oder daß man ihn im Sinne des Konservatismus mit Mitteln des Historismus einzuhegen und zu zähmen versucht. Damit haben wir nun einen ersten großen Komplex von Fragen vor uns, der die Literatur des 19. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“. Demgemäß finden sich in ihr auch die beiden Grundhaltungen zur Modernisierung wieder, und zwar, vereinfacht gesprochen, der Progressismus als Realismus und der Konservatismus als Romantizismus.
Romantizismus
Die Ausbildung des Denkens, das die Probleme der Modernisierung im Sinne von Konservatismus und Historismus angeht, ist eng mit der Geschichte der romantischen Bewegung verknüpft. Ein Grundimpuls der Romantik2 ist die Vorstellung, daß die moderne Welt im Grunde nicht zum Ansehen sei, daß sie in ihrem Mangel an Schönheit, in ihrer monströsen Häßlichkeit nur schwer zu ertragen sei und daß Kunst und Literatur dem modernen Menschen vor allem dann etwas würden geben können, wenn sie ihn anderes schauen ließen als diese moderne Welt, wenn sie ihn wenigstens in der Phantasie Verhältnisse erblicken [<<19] ließen, die nicht vom Wirbel der Modernisierung erfaßt wären und bei deren Schönheit er sich beruhigen und wieder zu sich kommen könnte.
Solche Verhältnisse will der Romantizismus vor allem in zwei Bereichen entdecken: in der Natur, genauer: in der von der Modernisierungsdynamik noch nicht erfaßten, der „unberührten“, „freien Natur“; und in der Geschichte, wie sie den modernen Menschen mit den wohlgeordneten Verhältnissen einer „guten alten Zeit“, mit vormodernen, traditionalen Gesellschaften bekanntmacht. Bei letzterem denkt der romantisch Gestimmte vor allem an das Mittelalter, als an eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben noch in eine stabile Ordnung eingegossen gewesen wäre, mit Kaiser und Reich, Gott und Vaterland, und in der die Menschen noch keine Kapitalisten, Karrieristen und Intellektualisten gewesen wären, sondern schlicht, fromm und tugendhaft. So etwa hat Novalis das Mittelalter in seiner Rede über „Die Christenheit oder Europa“ (1799) dargestellt.
Realismus
Demgegenüber läßt sich die Bewegung des „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“3 als ein Versuch von Kunst und Literatur verstehen, mit der modernen Welt ihren Frieden zu machen, wie immer sie im einzelnen aussehen und zu bewerten sein möge. Die Modernisierung ließ sich ja doch nicht aufhalten, der Fortschritt nicht wieder einfangen; er ließ sich allenfalls kritisch begleiten, und vielleicht mitgestalten und über solcher Mitgestaltung zum Guten wenden. Hier sollte also nicht mehr versucht werden, den Blick gegen die modernen Verhältnisse abzuschirmen und zu Natur und Geschichte hinüberzulenken. Vielmehr sollte ihn die Kunst nun dahin bringen, auf der Gegenwart, auf den „zivilisatorischen Realitäten“ (Gottfried Benn) der Moderne zu verweilen, ja sich den neuen Lebensformen – der modernen Arbeitswelt und Ökonomie, dem modernen Leben, den Großstädten, den sozialen Problemen in Stadt und Land, den Problemen einer modernen Bildung – überhaupt zu stellen, sich ihnen in jenen Formen gesteigerter Aufmerksamkeit und Bewußtheit zuzuwenden, die die Sache der Kunst ist. [<<20]
Zu einer solchen Ausrichtung der Literatur auf die moderne Welt kam es zuerst in Frankreich und in England, als den beiden avanciertesten Ländern in Europa.4 Für Frankreich ist hier vor allem Honoré Balzac (1799–1850) zu nennen, für England vor allem Charles Dickens (1812–1870), von denen der eine um 1830, der andere um 1840 zu einem neuartigen Realismus fand, jeder auf seine Weise. Bei Balzac zieht die Literatur erstmals ohne Wenn und Aber in die moderne Großstadt ein, um sich deren Boulevards und Plätze zu erobern und ihre verschiedenen Lebensbereiche zu erkunden, von den Palästen der alten und neuen Reichen bis hin zu den Elendsquartieren der alten und neuen Armen, ja um die gesamte moderne Gesellschaft von oben nach unten und von unten nach oben zu durchmessen. Sie begibt sich in die Zentren der Macht, an die Börse und in die Unterwelt, in die Fabriken und auf das verarmte Land; sie läßt den Minister, die Marquise und den Großkapitalisten ebenso ihre Auftritte haben wie den Kleinkrämer, den Bauern und den Arbeiter. Die deutsche Literatur vermag dem nur mit einer gewissen Verzögerung zu folgen, vor allem weil es in Deutschland erst später als in England und Frankreich zu jenen Formen von Modernisierung kam, die die Literatur des Realismus in den Blick nahm; weil die neuen Realitäten hier noch nicht Gestalt angenommen hatten oder jedenfalls noch nicht mit der gleichen Deutlichkeit sichtbar geworden waren wie dort.
Übergangs- und Zwischenformen
Geht man näher auf die Literatur des 19. Jahrhunderts ein, zeigt sich freilich, daß sich der romantische und der realistische Grundimpuls kaum je in Reinkultur und keineswegs in einem deutlichen Nacheinander Geltung verschafft haben, daß sie vielmehr nebeneinander zur Wirkung gelangt sind und dabei die verschiedensten Verbindungen eingegangen sind. Und wie sollte es anders sein, da Literatur, wenn sie denn wirklich Kunst ist, wenn sie einmal ein gewisses gedankliches und ästhetisches Niveau erreicht hat, nie einseitig ist; was ihre Zeitgenossen an Einseitigkeiten kultivieren, wird von ihr aufgegriffen und in Gebilden verarbeitet, die die unterschiedlichsten Motive in ein spannungsreiches Beziehungsleben einstellen. So hat der Romantizismus durchaus progressive Züge anzunehmen vermocht, wie sich der [<<21] Realismus auch konservativ hat gebärden können. Daraus sind eine Reihe von Übergangs- und Zwischenformen entstanden, die ein Gutteil, wenn nicht das Gros der Literatur des 19. Jahrhunderts ausmachen.
Biedermeier
Zu diesen Übergangs- und Zwischenformen zählen mitunter ganze kulturelle Bewegungen, denen man wie dem Biedermeier oder der „jungdeutschen“ Literatur des Vormärz den Status einer epochalen Tendenz zugesprochen hat. Der Biedermeier5 der Zeit von 1820 bis 1850 zieht seinen Kopf ein, damit er ihm im scharfen Wind der Modernisierung nicht davonfliegt, und verdrückt sich in die geschichtsfernen Zonen seines unmittelbaren Lebensumfelds. Dieser seiner Lebenswelt wendet er sich aber nicht nur zu, um sie im Sinne der Romantik zu „poetisieren“; er faßt sie auch mit einem geschärften Realitätssinn ins Auge, der auf den Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte vorausweist. Man denke nur an Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), Eduard Mörike (1804–1875) und Adalbert Stifter (1805–1868), wie sie, jeder auf seine Weise, den Abschied von der Romantik und Übergang zum Realismus markieren.
Vormärz
Etwas Ähnliches findet sich bei den Autoren des Vormärz,6 beim „Jungen Deutschland“7 und bei Heinrich Heine. Wenn sie auch mit einem unerbittlichen Realismus die Probleme der Gesellschaft ihrer Zeit analysieren und einen Fortschritt einklagen, der diesen Namen verdient hätte, so bleiben sie doch „mit dem Herzen“ und mit ihren Ansprüchen der Poesie der Romantik verhaftet. Es ist das blutende Herz des Romantikers, wie es Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zur Darstellung bringt (HS 7, 592–595), was sie zu Kritikern der Verhältnisse macht.
Historischer Roman
Und auch einige der beliebtesten Gattungen leben gleichermaßen aus romantischen und realistischen Impulsen heraus, so zum Beispiel der Historische Roman seit Walter Scott (1771–1832) und die [<<22] Dorfgeschichte seit Berthold Auerbach (1812–1882). Im Historischen Roman8 huldigt der Realismus, der doch eigentlich seinen Frieden mit der Gegenwart machen und die moderne Welt zur Darstellung bringen will, dem Historismus, indem er sich ältere Zeiten zum Schauplatz wählt. Während