Geschichte der deutschen Literatur Band 4. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur Band 4 - Gottfried Willems

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„guten alten Zeit“, zum „Goldenen Alter“ stilisieren ließe – man denke nur an Novalis und seinen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) – geht der Historische Roman des Realismus den geschichtlichen Verhältnissen mit der faktenbesessen-antiquarischen Attitüde des Historikers nach, bemüht er sich darum, ein möglichst getreues, detailgenaues Bild von der Vergangenheit zu zeichnen – aber eben ein Bild der Vergangenheit und nicht der Gegenwart. In diesem Sinne haben die meisten der großen Realisten auch historische Romane und Erzählungen geschrieben; einer von ihnen, Conrad Ferdinand Meyer, hat überhaupt nur Historisches verfaßt.

      Dorfgeschichte

      Auf solche Weise gehen der romantische und der realistische Grundimpuls in der Literatur des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichsten Verbindungen ein. Dessen unbeschadet sind sie aber zunächst einmal zu unterscheiden, als literarische Möglichkeiten, die aus zwei grundverschiedenen Einstellungen zur Moderne heraus erwachsen, aus dem Fortschrittszweifel und dem Fortschrittsglauben, aus der konservativen und der progressiven Haltung. Diese Haltungen zeigen sich natürlich auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, und sie lassen sich dort oft sehr viel deutlicher greifen als in der Literatur. Das gilt zumal für das politische Leben, dessen Diskurse anders als die literarische Rede zu plakativer Eindeutigkeit neigen. So haben die Begriffe des Progressiven und des Konservativen denn auch hier ihre scharfen Konturen erhalten.

      1.5 Literatur und Politik im 19. Jahrhundert

      Politisierung der Kultur

      Zunächst ist freilich festzuhalten, daß das 19. Jahrhundert überhaupt ein Jahrhundert fortschreitender Politisierung gewesen ist, der Politisierung sowohl immer größerer Teile der Bevölkerung als auch immer weiterer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich [<<24] der Literatur. Politik ist nun nicht mehr allein die Sache einer winzigen Elite, des Adels, der „Standespersonen“, der politischen Beamten; sie wird mehr und mehr zu jedermanns Sache. Ein jeder fühlt sich nun „immer mitten in der Agitation der politischen Leidenschaften inne leben“ (GS 2, 71).

      Das ist vor allem ein Werk der Presse, die im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Es entstehen immer neue „Journale“, immer neue Tageszeitungen, wie sie bis heute nicht aus dem politischen Leben wegzudenken sind, und sie werden von immer mehr Menschen gelesen. Die moderne Öffentlichkeit nimmt nun endgültig eine Form an, wie wir sie kennen. Der Journalist betritt die Bühne der Geschichte, um sie nicht wieder zu verlassen, und er avanciert rasch zu einer Leitfigur des modernen Lebens. Auch viele Autoren von Literatur haben zumindest zeitweise als Journalisten gearbeitet, denn von der Literatur allein konnten die meisten von ihnen im 19. Jahrhundert noch immer nicht leben. Vor allem die Autoren des Vormärz haben sich als Journalisten versucht – man denke nur an Heine und Gutzkow – aber auch unter den Realisten haben viele noch ihr Brot mit Arbeiten für die Presse verdient, so etwa Fontane.

      Politisierung und Modernisierung

      Der tiefere Grund für die fortschreitende Politisierung der Menschen und des gesellschaftlichen Lebens ist natürlich die Modernisierung. Schon an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hat einer ihrer engagierten Vorkämpfer, einer der größten Mobilmacher, den die Menschheit bis dahin gesehen hatte, der französische Kaiser Napoleon, den Ausspruch getan: „Die Politik ist das Schicksal“, und so ist es auch überall gekommen, wo sich die Modernisierungsmaschine in Gang gesetzt hat. Der Fortschritt, die unausgesetzte Mobilisierung von Menschen und Dingen, natürlichen und kulturellen Ressourcen, der große Verschiebebahnhof der Moderne verlangt nach Organisation und Steuerung, und er verlangt nach ihnen in einem Maße, das alles in den Schatten stellt, was die Menschheit zuvor an Organisations- und Steuerungsbedarf erlebt hat. Die Folgen zeigen sich zum einen im Anschwellen der Verwaltungsapparate – das 19. Jahrhundert ist auch die Zeit eines exponentiellen Wachstums der Bürokratie – und zum andern eben in der Politisierung. Denn Politik ist ja nichts anderes als die Gesamtheit der Diskurse, mit denen eine Gesellschaft die Prozesse zu steuern versucht, in denen sie sich organisiert. [<<25]

      Was es mit alledem auf sich hat, hatte sich in der Zeit der Revolution von 1789 mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt. Da trat mit einem Schlag das ganze Panorama der modernen Politik vor die staunenden Augen der Welt: das große Forum des Parlaments, das Drama der Wahlen, die Parteipolitik, die kritische Begleitmusik der Presse, die professionelle Bearbeitung der Öffentlichkeit, die Typen des Berufspolitikers, des Politingenieurs und des politischen Journalisten. Politik wurde hier für alle sichtbar zum parteipolitischen Kampf zwischen Modernisierern und Modernisierungsgegnern, zwischen Erneuerern und Bewahrern, und hier wiederum zwischen radikalen und moderaten Erneuerern – Revolutionären und Reformern – und zwischen moderaten und radikalen Bewahrern – Konservativen und Reaktionären. Hier entstanden übrigens auch die Begriffe von „linker“ und „rechter“ Politik, abgeleitet von der Sitzordnung der Französischen Nationalversammlung.

      Das Wechselspiel von Revolution und Restauration

      Seinen deutlichsten Ausdruck fand der politische Kampf um den Fortschritt aber eben im Wechselspiel der Revolutionen und der Restaurationsversuche. So bezeichnen Revolutionen die wichtigsten Daten im politischen Leben des 19. Jahrhunderts. Die erste in der langen Reihe ist die Französische Revolution von 1789, eine Revolution, die auch für Deutschland die größten Folgen gehabt hat, obwohl es hier nur in einem einzigen Fall zur Gründung einer Republik gekommen ist, in Mainz, und im übrigen allenfalls zu Reformen wie zur Abwicklung des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ und zu den inneren Reformen in Preußen und einigen anderen deutschen Fürstenstaaten. Die Epoche der Französischen Revolution ging mit dem Wiener Kongreß von 1814/15 zu Ende, der eine Wiederherstellung der alten Mächte Monarchie, Adel und Kirche brachte, die sogenannte Restauration von Thron und Altar. Auf dem Boden des Alten Reichs ließ er die Verhältnisse entstehen, die ihre Kritiker nach dem führenden Staatsmann Österreichs, dem Fürsten Clemens von Metternich (1773–1859), das System Metternich nannten.

      Das Ziel Metternichs und seiner Mitstreiter war es, den Geist, der 1789 aus der Flasche gefahren war, wieder in die Flasche zurückzupraktizieren, und sie scheuten dabei kein Mittel der Gewalt. Spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen der deutschen Fürsten von 1819 gab es überall in Deutschland das, was man Demagogenverfolgung nannte, [<<26] gab es eine staatliche Zensur, ein ausgedehntes Spitzelwesen und die ganze Palette repressiver polizeilicher Maßnahmen, wenn sich auch

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