Geschichte der deutschen Literatur Band 4. Gottfried Willems

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Geschichte der deutschen Literatur Band 4 - Gottfried Willems

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– „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und die Ziele der sogenannten Befreiungskriege von 1813/15 – „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ – zu bereden, zu besingen und überhaupt in jeder erdenklichen Form präsent zu halten.

      Aber der Geist des Fortschritts ließ sich nicht wieder in die Flasche zurückzwingen. Auch politisch war er weiter am Werk, nicht nur in der Literatur, so zum Beispiel in der Verfassungsbewegung, also im Ringen darum, daß sich die Fürstenstaaten Verfassungen gäben, die gewählte Parlamente vorsähen. Die Wahlen, an die man dabei dachte, waren allerdings noch keine „freien, gleichen und geheimen Wahlen“, wie wir sie kennen; nur ein kleiner Kreis wohlhabender Bürger sollte an ihnen teilnehmen können, insofern das Wahlrecht an einen „Zensus“, an Besitz und Einkommen geknüpft blieb.

      Bereits 1830 kam es zu einer zweiten Revolution, der sogenannten Juli-Revolution, die freilich nur in ihrem Ursprungsland Frankreich zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse führte; in Deutschland blieb die Unruhe überschaubar. Dafür war die Reaktion der Machthaber um so heftiger; die Zügel der „Demagogenverfolgung“, der Zensur und Repression wurden weiter angezogen, so daß viele namhafte Literaten wie Heinrich Heine und Ludwig Börne (1786–1837) nach Paris ins Exil gingen. Denn in Frankreich hatte die Juli-Revolution in der Tat ein Mehr an Freiheit gebracht, eine Stärkung des Parlaments unter dem neuen König, dem „Bürgerkönig“ Louis Philippe, und vor allem ein Mehr an Pressefreiheit.

      Das dritte große Revolutionsjahr ist das Jahr 1848, das Jahr der März-Revolution. Wiederum ging die Revolution von Frankreich aus, aber sie erfaßte nun auch weite Teile Deutschlands, und sie brachte endlich die von den Liberalen ersehnten Wahlen. Das Parlament, das aus ihnen hervorging, das berühmte Parlament in der Frankfurter Paulskirche, hat sich aber nicht auf Dauer etablieren können und seine Macht bald wieder verloren. Frankreich wurde zunächst zum zweiten Mal eine Republik, um sich 1852 erneut in ein Kaiserreich [<<27] zu verwandeln, mit einem Neffen Napoleons, Napoleon III., an der Spitze. Dieses wurde 1871, nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland, zum Schauplatz einer vierten Revolution und überdies auch des Aufstands der Pariser Kommune, einer Revolution in der Revolution, bei der man erstmals mit dem Kommunismus Ernst zu machen suchte. Deutschland hingegen mußte bis 1918 auf die nächste Revolution warten.

      Deutschland und Europa

      Der Blick auf das Wechselspiel von Revolution und Restauration zeigt, daß man, wenn man von der politischen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert spricht, immer auch an Frankreich denken muß. Denn das politisch bewegte Deutschland schaute auf Frankreich, so wie das ökonomisch interessierte nach England, dem Land der industriellen Revolution und des Kapitalismus. Das künstlerische Deutschland zog übrigens weithin noch immer eine andere Orientierung als die nach Westen vor; es blickte – wie all die Jahrhunderte zuvor seit den Zeiten der Renaissance – nach dem Süden, nach Italien, dem Land, auf dessen „klassischem Boden“ (Goethe) man die Antike und deren künstlerisches Erbe studieren konnte. Italienreisen blieben auch im 19. Jahrhundert noch ein fester Programmpunkt in der Ausbildung des Künstlers.

      Allerdings kamen nun immer mehr Reisen nach Frankreich und England hinzu, freiwillige Reisen ebensowohl wie politisch erzwungene, und das waren eben keine Reisen zur Antike mehr, sondern Reisen in die Moderne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Durchbruch der ästhetischen Moderne im engeren Sinne, wird Paris schließlich vollends zur Hauptstadt der Kunst und löst damit Rom als Ziel von Künstlerreisen ab. Naturalisten wie Michael Georg Conrad (1846–1927) und Symbolisten wie Stefan George (1868–1933) machen ihre entscheidenden künstlerischen Erfahrungen nicht mehr in Italien, sondern in Paris. Das gilt es festzuhalten, denn auch darin kann man etwas von der Entwicklung von Kunst und Literatur im 19. Jahrhundert greifen; Künstlerreisen haben ja eine eigene Logik und Aussagekraft.

      Bürgertum vs. Adel

      Zurück zur Politik. Wenn das 19. Jahrhundert nacheinander so viele Revolutionen erlebt hat, so lag das vor allem daran, daß auf jede Revolution ein offener oder schleichender Restaurationsversuch folgte, der die revolutionären Kräfte erneut herausforderte. Restauration hieß hier vor allem, die Monarchie, das „Gottesgnadentum“ des [<<28] Souveräns zu stärken und die Position des Adels als der politisch-gesellschaftlichen Elite zu sichern. Solche Restauration der „legitimen“, durch Erbschaft zur politischen Führung berechtigten Mächte gelang jedoch nur noch in Grenzen. Denn die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung war längst auf das Bürgertum übergegangen. Im Zuge der industriellen Revolution errang es sich vollends die ökonomische Macht, und die wollte es nun auch in politische Macht ausgemünzt sehen, schon allein um die Rahmenbedingungen seines Wirtschaftens mitbestimmen zu können. Das Prinzip der Monarchie wurde durch den Verfassungsgedanken ausgehöhlt, die Fürstenstaaten wurden konstitutionelle Monarchien mit gewählten Parlamenten. Und der Adel, dieses Relikt des mittelalterlichen Feudalwesens, dessen existentielle Basis der Landbesitz und die Gutswirtschaft waren, geriet nicht nur ökonomisch gegenüber dem potenteren Bürgertum ins Hintertreffen.

      Schon der Wiener Kongreß hatte mit dem Gedanken, die „legitimen“ Mächte zurückzubringen, nicht wirklich Ernst gemacht. Von den an die dreihundert staatlichen Gebilden des Alten Reichs blieben gerade einmal 37 übrig, die anderen wurden „mediatisiert“, von größeren Nachbarstaaten geschluckt. Viele fürstliche Familien waren also auf Dauer entmachtet und saßen nun frustriert und scheeläugig auf den Schlössern herum, die ihnen geblieben waren; und je weniger sie noch zu sagen hatten, desto mehr bestanden sie auf ihren Privilegien und desto verbissener kultivierten sie ihre Prätentionen. Aber auch so und gerade so blieb der Adel ein gesellschaftlich bedeutsamer Faktor; nach wie vor wurde er bei Hofe, beim Militär und im Staatsdienst bevorzugt und beanspruchte er überall im gesellschaftlichen Leben besondere Beachtung. So stellt sich die Gesellschaft im 19. Jahrhundert zwar nicht mehr als eine Ständegesellschaft dar wie noch im 18. Jahrhundert, wohl aber als eine Dreiklassengesellschaft, wie sie Karl Marx seinerzeit analysiert und beschrieben hat, bestehend aus den Klassen des Adels, des Bürgertums und des großen Rests, der Bauern, Tagelöhner, Handwerker und Industriearbeiter.

      Einen guten Einblick in diese Verhältnisse gewähren die Romane von Karl Immermann. Zugleich erhellt aus ihnen, in welchem Maße und auf welche Weise sie die zeitgenössische Literatur beschäftigt haben. Deshalb sollen sie hier als Leitfaden für eine erste Annäherung an die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts dienen. [<<29]

      1 Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München 1992. – Annette Wittkau: Historismus. Göttingen 1992. – Moritz Baßler u. a. (Hrsg.): Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996.

      2 Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 1998. – Detlef Kramer: Romantik. Stuttgart Weimar 2001. – Ernst Müller: Romantisch/Romantik. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart 2003, S. 315–344.

      3 Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart Weimar 2006. – Bernd Balzer: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus. Darmstadt 2006. – Christian Begemann (Hrsg.): Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt 2007.

      4 Reinhard Lauer (Hrsg.): Europäischer Realismus. Wiesbaden 1980.

      5 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980.

      6 Peter Stein: Epochenproblem Vormärz. 1815–1848. Stuttgart 1974. – Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. 2 Bde. Hamburg 1995. – Martina Lauster u. a.

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