Soziale Arbeit. Johannes Schilling
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– besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.
Nach dem BSHG hat jede/r BürgerIn einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Das Gesetz verfolgt den Zweck, der/dem Hilfebedürftigen bei eigener Mitwirkung einen gegebenenfalls einklagbaren Zugang zu einem Leben der Selbstbestimmung zu schaffen, damit sie/er und ihre/seine Familie ein menschenwürdiges Dasein führen können. Das BSHG führte neue Begriffe ein: aus Fürsorge wurde Sozialhilfe, aus Jugendfürsorge und Jugendwohlfahrtspflege wurde Jugendhilfe, aus Wohlfahrtspflege als Sammelbegriff wurde die Bezeichnung Soziale Arbeit (Hering/Münchmeier 2014, 114). |
1.7 Armut und Hilfe in der bundesrepublikanischen Sozialarbeit
1.7.1 Armut
Würden Sie der Formulierung zustimmen: „Wenn man von Armut spricht, meint man stets materielle Armut.“ Oder würden Sie Armut anders umschreiben?
Wenn man von Armut spricht, sollte man nicht nur an materielle Armut, sondern auch an andere gesellschaftliche Formen der Armut denken.
Im Folgenden soll nach dem Verständnis der Armut gefragt werden. Das Verständnis von Armut hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Armut ist ein relativer, gesellschaftlicher Tatbestand.
Armut heute
„Was aber heißt relativ. Relativ ist z. B. das jeweilige Einkommen im Verhältnis zum durchschnittlichen Verdienst eines Erwerbstätigen; relativ sind die, für die Festsetzung des „Mindestbedarfs“ erforderlichen, Konsumtionsmittel im Verhältnis zum durchschnittlichen Wert der Ware Arbeitskraft; relativ ist die Kaufkraft der Menschen mit Bezug auf die Teuerungsrate der zum Lebensunterhalt erforderlichen Konsumtionsmittel; relativ ist schließlich auch die Wahrnehmung von Ansprüchen im Verhältnis zu den disponiblen Sozialleistungen. Relativ ist individuelle Armut somit im Vergleich zur Gesamtheit gesellschaftlich verteilter Konsummöglichkeiten, zu Umfang und Qualität der gesellsclhaftlich verteilten Geld-, Dienst- und Sachleistungen. Armut ist mithin nicht bloß ein Problem ökonomischer Mangel- und Abhängigkeitssituationen. Sondern Armut ist immer gleichzeitig ein Problem ökonomischer sowie auch sozialer Ungleichheit, damit also als relativ anzusehen.“ (Zander 1987, 138)
Paradigmenwechsel
psycho-soziale Armut
Man kann von einem sozialpolitischen Paradigmenwechsel sprechen, einer feststellbaren qualitativen Veränderung von Erscheinungsformen der Armut. Nicht mehr nur der materielle Aspekt, sondern immer gleichzeitig auch der psycho-soziale Aspekt von Armut steht im Blickpunkt. Damit beschränkt sich Soziale Arbeit nicht mehr nur auf bestimmte Gruppen, Schichten und Einkommensverhältnisse, sondern auf alle Menschen. Diese Entwicklung wurde eingeleitet mit der Übernahme der materiellen Lebensversicherung durch sozialpolitische Maßnahmen und Institutionen. Dadurch nehmen Notstände und Lernprobleme im Ganzen keineswegs ab, sondern sie verlagern sich von materiellen auf psycho-soziale Notstände bzw. Problemlagen und Bedürfnisse.
Man kann sagen, dass die relative Bedeutung wirtschaftlicher Notstände – stellt man einen genügend langen Zeitraum in Rechnung – tendenziell abgenommen, während die Bedeutung psycho-sozialer Probleme zugenommen hat. Die Suche nach einem akzeptierten und subjektiv zufriedenstellenden Lebensstil und Lebensqualität wird zu einem zunehmend relevanten Problem. Es geht um die grundlegende Frage, ob unsere postmodernen Gesellschaften einem Wertwandel oder Werteverlust unterliegen. Dieser Perspektivwandel zur psycho-sozialen Lebenshilfe übersieht nicht, dass es in Deutschland eine ,neue Armut‘ gibt, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung mit wachsender Tendenz v. a. auch bei Kindern/Jugendlichen, alten Menschen und Langzeitarbeitslosen als (materiell) arm zu bezeichnen ist.
Wenn man von Armut spricht, etwa in Bezug auf Familien, muss zwischen verschiedenen Aspekten unterschieden werden: liegt relative oder absolute Armut vor? Handelt es sich um Familien in einer armutsnahen Lebenssituation bzw. so genannte Familien in prekären Lebenslagen? |
Armutsgefährdung
„Der aktuellen statistischen Bemessung von Armut liegt europaweit ein Verständnis von relativer Armut zugrunde, d.h. Armut wird definiert in Bezug zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft. Der zentrale Begriff ist hier die Armutsgefährdungsquote: In Deutschland belief sich der Schwellenwert für Armutsgefährdung im Jahr 2009 für eine alleinlebende Person auf 11.278 Euro im Jahr, was einer Quote von etwa 15,6 % der Gesamtbevölkerung entspricht.“ (Uhlendorff et al. 2013, 75)
Die Armutsgefährdungs- bzw. Armutsrisikoquote liegt in Deutschland seit 2005 etwa auf dem gleichen Niveau, stagniert also trotz einer guten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren. Im Jahr 2015 lag sie bei 15,4 % der Bevölkerung, wobei allerdings relativ große regionale Unterschiede bestehen. Die Armutsrisikoquote ist in erster Linie ein Maß der Einkommensungleichheit. Sie misst den Anteil der Personen, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 % des mittleren Äquivalenzeinkommens beträgt. Dabei bleiben die Wirkungen von Sach- und Dienstleistungen unbeachtet, und zwar auch dann, wenn sie das Leben betroffener Personen nachhaltig verbessern (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017, VI–VII).
prekäre Lebenslage
„Der Begriff prekäre Lebenslage ist weiter gefasst und geht über die Beschreibung einer aktuellen ökonomischen Notlage einer Familie hinaus. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind auch hier die Teilhabechancen der Familien in prekären Lebenslagen eingeschränkt, obwohl Familien über ein Einkommen verfügen. In diesem Zusammenhang wird auch von Einkommensarmut gesprochen. Zu dieser Gruppe zählt auch die in Europa wachsende Zahl der sogenannten Niedriglohnbeschäftigten, die trotz Vollzeittätigkeit kaum in der Lage sind, für sich und ihre Familien ein Einkommen zu erzielen, das ein Leben oberhalb der Armutsgefährdungsquote ermöglicht (AWO 2010). Neben den Niedriglohnbeschäftigten sind v. a. Ein-Eltern-Haushalte, Familien mit drei oder mehr Kindern sowie Familien mit Migrationshintergrund betroffen.“ (Uhlendorff et al. 2013, 76)
„Soziale Ungleichheit verkörpert sich zwar nicht mehr so kollektiv wie früher in Gruppen und Milieus. Sie scheint in der Struktur abgewandelt zu sein. Soziale Benachteiligung äußert sich heute weniger als kollektive soziale Deklassierung, sondern eher als soziale Nichtberücksichtigung von Gruppen im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß. Nichts anderes bedeutet die Formel von der Zweidrittelgesellschaft: Auf zwei Drittel der Gesellschaft richtet sich die Politik von Wachstum und Prosperität, das andere Drittel ist an dieser Entwicklung nicht beteiligt, wenn auch leidlich sozial versorgt. Zum modernen Sozialstaat ist also soziale Benachteiligung weniger über die traditionellen Muster sozialer Deklassierung und Randgruppenexistenz begreifbar, sondern eher über das Bild des Ausgeschlossenseins von der gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive. Dazu kommt, daß die moderne Konsumgesellschaft Armut verschleiert. Auch die Armen können bei uns konsumieren, auch wenn es nur Billigware ist. Die Konsumgesellschaft suggeriert ökonomische und soziale Teilhabe. Die Menschen tun das ihre dazu, um ihre Armut und soziale Benachteiligung zu verbergen, sie fürchten noch mehr soziale Isolierung, haben Angst, den Anschluß endgültig zu verpassen, wollen zeigen, daß sie dabei sind. Und dies läuft wiederum über demonstratives Konsumverhalten.“ (Böhnisch 1992, 121) |
1.7.2 Soziale Hilfe
2. Praxis-Situation: