Küsse am Meer. Rosita Hoppe
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„Was steht im zweiten Brief?“
Pauline riss auch das zweite Kuvert auf und zog den Briefbogen heraus. „Das ist ein Jobangebot. Werbeagentur in Bremen, ab nächsten Monat.“ Pauline tippte sich an die Stirn. „Die spinnen wohl. Ich geh doch nicht nach Bremen. Was soll ich da?“
„Du musst das ja nicht annehmen. Es findet sich bestimmt noch was anderes.“
„Das werde ich auch garantiert nicht tun. Was denken die sich eigentlich? Dass ich meine Wohnung in Hameln auflöse und woanders hinziehe? Niemals.“ Pauline erhob sich und straffte ihre Schultern. „Jule, so sehr es mir auch bei dir gefällt, ich muss endlich auf Jobsuche gehen. Hab das schon viel zu lange schludern lassen.“
„Mach das, Süße. Auch, wenn ich dich gern noch einige Wochen hier behalten würde, schätze ich, dass du mit dem bisschen Geld, dass du bei mir verdienen kannst, nicht lange über die Runden kommen wirst.“
„Leider. Das wäre mein Traumjob – na ja, fast.“ Pauline winkte Jule noch einmal zu und stapfte hinauf in ihr Zimmer.
Nachdem sie die nassen Kleidungsstücke über die Duschwand gehängt hatte, legte sich Pauline mit dem Laptop aufs Bett. Sie trug immer noch Pauls Sachen und sie wollte sie anlassen, solange sie auf ihrem Zimmer blieb. Auf diese Weise fühlte sie sich Paul nahe und hoffte, die Zeit in seinem Haus viel besser nachspüren zu können. Während der Laptop hochfuhr, stopfte sich Pauline das Kopfkissen hinter ihren Rücken und schob ihre kalten Füße unter die Bettdecke. Was Paul wohl gerade machte? Ob er an sie dachte? Die Erinnerung an den Moment, wo er sich zu ihr herabbeugte, seine blonden Locken sich um sein Gesicht kringelten und er ihr ganz tief in die Augen blickte, bescherte ihr auch nachträglich noch eine Gänsehaut. Dieser Kuss! Pauline schloss die Augen und spürte ganz deutlich seine Nähe. Fast konnte sie den Druck seiner Lippen spüren, die Leidenschaft, mit der er sie berauscht hatte. Pauline seufzte genießerisch und kuschelte sich tiefer unter die Bettdecke. Sie sehnte sich nach weiteren Küssen. Wenn sie ihn doch wenigstens anrufen könnte. Doch blöderweise hatten sie ihre Telefonnummern nicht ausgetauscht, wie ihr gerade auffiel. Das durfte sie beim nächsten Mal auf keinen Fall vergessen.
Pauline riss sich von ihren Erinnerungen los und startete konzentriert die Suche nach einem Arbeitsplatz. Nach mehr als einer Stunde gab sie es auf. Nicht nur auf dem Portal der Arbeitsagentur, sondern auch auf mehreren anderen Jobportalen, hatte sie nach einem passenden Angebot gesucht. Mit dem niederschmetternden Ergebnis, dass keine Werbeagentur im Umkreis von Hameln und Hannover einen freien Arbeitsplatz anbot, hatte sie nicht gerechnet. Dennoch kam Bremen überhaupt nicht infrage. Außerdem war das Angebot auf lediglich ein Jahr befristet. Frustriert gab Pauline die Suche auf, stellte aber noch ihr Profil auf den Portalen für Jobangebote online. Vielleicht würde sie auf diese Weise ein ansprechendes Angebot bekommen. Bevor sie den Laptop ausschaltete, kontrollierte sie ihr E-Mail-Fach. Schon wieder eine Nachfrage von Frau Mölder, die Pauline mit den Worten beantwortete, dass sie sich in den nächsten Tagen telefonisch melden würde. Sie fürchtete sich vor dem Moment, an dem sie erklären musste, dass sie immer noch kein Konzept entworfen hatte. Hoffentlich schaffte sie es, ihre Lektorin ein weiteres Mal zu vertrösten. Aber vielleicht würde die Idee über Nacht kommen. Pauline nahm sich fest vor, den Anruf nicht auf die lange Bank zu schieben. Dennoch war sie froh, dass es inzwischen zu spät war, um sie noch erreichen zu können. Sie fuhr den Laptop herunter und klappte ihn energisch zu.
Pauline konnte es kaum erwarten, bis sie endlich zu ihrer Verabredung aufbrechen konnte. Am Morgen, noch vor dem Frühstück, war sie eine Runde gejoggt. Die Strecke, die sie mittlerweile am Stück und ohne zusammenzubrechen, schaffte, hatte sie um schätzungsweise zweihundert Meter verlängern können. Sie war stolz auf ihre bisherige Leistung, die sich mit der Zeit aber sicher noch steigern ließ. Denn sie wollte ihre Speckrollen, die, wie sie vermutete, hauptsächlich vom Eisessen kamen, loswerden. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, das war ihr klar. Denn eines stand für sie fest. Sie würde nicht ganz auf den Genuss ihrer Lieblingsspeise verzichten können – geschweige denn wollen. Reduzieren, aber nicht aufgeben. Der Vormittag war ausgefüllt mit Betten machen, Gästezimmer und Treppenhaus reinigen. Erst jetzt, wo sämtliche Zimmer der Pension Jule belegt waren, hatte Pauline das Gefühl, nicht nur für lau hier zu wohnen.
Als Pauline am Nachmittag aufbrach, wischte Jule gerade die Stufen im Eingangsbereich.
„Kommst du nachher in der Eisdiele vorbei?“, fragte Pauline.
Jule ließ ihren Lappen in den Wischeimer fallen und sah auf. „Mal sehen, ob ich das schaffe. Ich habe noch einiges zu tun.“
„O bitte. Ich helfe dir auch später.“
Jule lachte. „Na gut. Wenn es dir so wichtig ist.“
„Danke.“ Pauline warf Jule eine Kusshand zu. „Bis später!“ Schwungvoll wirbelte sie ihre Umhängetasche durch die Luft und ging beschwingt und erwartungsvoll in Richtung Eiscafé. Erst, als sie an der nächsten Straßenecke Pensionsgäste entdeckte, die ihr entgegen kamen, zügelte sie sich und ging gemäßigten Schrittes weiter. „Hallo, Herr Krämer, Frau Liebig. Einen schönen Tag noch.“ Sie lächelte dem Paar entgegen, das ihr freundlich zunickte.
Ob er schon auf sie wartete? Wenige Meter vor dem Eiscafé bimmelte hinter Pauline eine Fahrradklingel. Sie drehte sich um und entdeckte Paul, der mit wehenden Locken auf einem Rennrad heranstürmte. Mit quietschenden Bremsen hielt er neben ihr an.
„Hallo, schöne Frau“, grüßte er und lachte.
„Hallo, Paul.“ Bei seinem Anblick wurde ihr ganz warm ums Herz. Wieso nur hatte sie ihm eine Woche lang widerstehen können?
Paul schwang sich vom Rad und beugte sich zu Pauline. „Schön, dich zu sehen“, sagte er und küsste sie auf den Mund. In Paulines Bauch flatterte es heftig. Was war nur los mit ihr? Konnte es sein, dass sie sich Hals über Kopf in diesen Mann verknallt hatte? Nein, sagte sie sich gleich darauf. Vermutlich reagierte sie auf Pauls Gesten, weil sie ihr guttaten und weil Ralf sie so sehr verletzt hatte.
Die letzten Meter bis zum nächsten Fahrradständer schob Paul sein Rad und kettete es dort an. Pauline wartete vor dem Eingang des Eiscafés. „Drinnen oder draußen?“, rief sie.
„Lieber draußen, falls es dir nicht zu kalt ist.“
Die Auswahl freier Plätze war groß. Die meisten Gäste saßen vermutlich drinnen, da es bedeckt war und ein kühler Wind wehte. Aber Pauline machte das nichts aus, denn sie trug ihre kuschlige Fleecejacke. Sie nahmen an einem Tisch dicht am Haus Platz.
„Bist du gut nach Hause gekommen?“, fragte Paul.
„Ja, kein Problem. Aber mich erwartete gleich das nächste Donnerwetter.“
„Wieso das?“
„Meine Freundin hat sich mächtig aufgeregt, weil ich bei dem Gewitter unterwegs war.“
„Nicht zu unrecht“, sagte Paul und rückte ein wenig näher an Pauline heran.
„Jedenfalls hatte sie versucht, mich auf dem Handy zu erreichen, das ich leider nicht dabei hatte, weil der Akku leer war. Sie war außer sich vor Sorge.“ Pauline seufzte.
„Zugegeben, mir wäre es ebenso ergangen.“
„Ist ja noch mal gut gegangen. Aber du solltest vor solchen Unternehmungen wirklich auf den Wetterbericht achten.“ Paul räusperte sich.