Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

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Tatort Nordsee - Sandra Dünschede

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Lüpkes lebt in einem kleinen Landhaus hinter dem neu errichteten Deich. Doch die Idylle in der ostfriesischen Leybucht ist trügerisch. Schon während der ersten höheren Flut entdeckt Wiard, dass ungewöhnlich viel Wasser den Deichfuß durchdringt. Kurz darauf scheint sich sein Verdacht, beim Deichbau könne nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein, zu bestätigen: Als er sich an einem stürmischen Herbsttag zusammen mit seinen Freunden August Saathoff und Lübbert Sieken aufmacht, um nach Beweisen für den Pfusch am Bau zu suchen, peitscht ein tödlicher Schuss durch die Dämmerung …

      Dr. Hardy Pundt wurde 1964 geboren. Er wuchs mit seinen Geschwistern auf der Insel Memmert auf, wo die Großeltern und sein Vater Inselvogte waren. Seine Schulzeit verbrachte er auf der Insel Juist sowie dem ostfriesischen Festland. Es folgten Studium, Promotion und Habilitation an der Universität Münster. Sein Lebensmittelpunkt liegt heute in Schleswig-Holstein, wo er mit seiner Familie lebt. Lehre und Forschung im Bereich Geoinformatik ziehen ihn jedoch regelmäßig an die Hochschule Harz in Wernigerode. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Beiträge in deutscher und englischer Sprache. Außerdem sind bereits fünf Kriminalromane von ihm erschienen, in vier davon ermitteln Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts.

      Meldung, Sommer 2006

      Pfusch beim Deichbau nach ›Katrina‹

      Kein Experte bezweifelt, dass die Dämme auf der Strecke von 270 Kilometern pünktlich zum Beginn der neuen Hurrikan-Saison am 1. Juni fertig sind. Doch im Wettlauf mit der Zeit zählt Quantität anscheinend mehr als Qualität. So würden die von der Regierung eingesetzten Pioniere die Dämme in der Eile nur notdürftig reparieren. Hauptkritikpunkt der Experten: Die rund 500 Ingenieure würden minderwertiges Baumaterial benutzen, das dem neuen Deich alles andere als Stabilität gebe. »Die Regierung täuscht den Bewohnern der Stadt eine Sicherheit vor, die es nicht gibt«, schimpft Ivor van Heerden von der Universität Louisiana in der ›Washington Post‹.

      Die Abenddämmerung brach herein, und von Westen peitschte eine Bö nach der anderen über die Deichkrone. Der Regen schien von Minute zu Minute stärker zu werden, die Bäume im Polder beugten sich ehrfürchtig vor dem Sturm, der dort über die See und, hinter dem Deich, über das Marschland fegte.

      Lübbert Sieken lag oben auf der Deichkrone, durchnässt und den wilden Gebärden des Sturmes schutzlos ausgesetzt. Er war einfach zusammengesackt, als hätte ihn der Wind umgeworfen, was, wenn man hier oben nicht aufpasste, durchaus geschehen konnte. Aber einen wie Lübbert Sieken, der zeit seines Lebens hinter dem Deich gelebt hatte und nichts besser kannte als das Land dahinter und das Wattenmeer davor, den haute kein Wind um, auch kein Orkan. Selbst nach obligaten Besäufnissen im Dorfkrug – bei Feuerwehr- oder Sportfesten oder aus welchem Grund auch immer –, Lübbert hatte stets den Weg nach Hause gefunden, auf eigenen Füßen. Da musste schon etwas anderes passieren, dass er umfiel.

      Durch das nasse Gras des Deiches quoll hier und da aufgeweichtes Erdreich, was das Ganze zu einer dreckigen, schmuddligen Pampe aufweichte, die in großen Klumpen an den Stiefeln kleben blieb, wenn man hineintrat. Dort, wo Lübbert jetzt lag, mischte sich Blut in den wasserdurchtränkten Schlamm.

      Wieder erfasste eine Orkanbö die beiden Männer, die fassungslos über dem Körper von Lübbert Sieken knieten und für einige Zeit nicht wussten, was sie denken oder tun sollten. Instinktiv hatte August sein Taschentuch aus der Hose gerissen und es auf die Wunde gedrückt, aus der Blut schoss. Doch es troff daran vorbei, färbte Augusts Taschentuch, seine Hand, den Ärmelanfang seiner Jacke und den Boden rötlich – schnell wurde das Blut durch den starken Regen weggespült. Doch neues quoll nach.

      Wiard hielt Lübberts Kopf: »Lübbert, Mann, Lübbert, was ist los? Sag doch was!« Aber Lübbert schwieg, die Augen geschlossen.

      »Er lebt noch«, meinte Wiard, »ich spüre seine Halsschlagader.« August sah in die Gesichter. »Dann los, keine Zeit verlieren, wer auch immer hier herumgeballert hat – erst mal müssen wir Lübbert helfen.«

      In der hereinbrechenden Dunkelheit und bei tosendem Sturm versuchten die beiden Männer, Lübbert Sieken hinunter zum Deichfuß und dann zu ihrem Auto zu tragen. Das hatten sie glücklicherweise auf dem gepflasterten Parkplatz abgestellt, sonst wäre es im Modder versunken.

      August Saathoff war kaum zu sehen, ganz unten in seinem neuen Melkstand. Sein Vater, längst auf dem Altenteil, aber noch immer erstaunlich agil und bei guter Gesundheit, half ihm nach wie vor fast jeden Tag im Stall.

      »Was habt ihr das heute gut«, rief er seinem Sohn zu, »früher haben wir das alles mit der Hand gemacht und heute, Knopfdruck, Kuh in den Melkstand, Sauger ran an die Zitzen, melken und wieder ab in den Stall, wo sie laufen können nach Herzenslust«, er lächelte.

      August entgegnete: »Ihr hattet zu den Zeiten auch nur acht Kühe, ich habe jetzt über 60.« In seinem Melkstand konnten mehrere Kühe gleichzeitig gemolken werden. Beide, Vater und Sohn, waren mächtig stolz auf die Anlage. Der neue Laufstall war schon im vorigen Jahr fertig geworden, und nun auch der Melkstand mit allem neuen technischen Pipapo, was Vater Saathoff gerade dann gerne erwähnte, wenn andere dabei waren.

      Der Saathoff’sche Hof lag unweit des Deiches; er war nur knapp anderthalb Kilometer entfernt. Etwa acht Kilometer betrug die Entfernung nach Norden, vor langer Zeit noch Kreisstadt, bis diese Rolle von Aurich übernommen worden war; Kreisreform, wieder einmal. Im Nachbardorf machten August oder seine Frau den Großeinkauf, gab es in ihrem engeren Umkreis doch weit und breit keinen Supermarkt. Augusts Vater hatte kurz nach dem Krieg ein stattliches Stück Land vererbt bekommen, von einem Großonkel, mit dem er eigentlich gar nicht viel zu tun gehabt hatte, immerhin einige Hektar bester Acker, Marschboden. Im Laufe der Zeit hatte er sich aber zunehmend auf die Milchwirtschaft konzentriert, die Herde war gewachsen, und nun führte sein Sohn den Hof sehr professionell weiter. Die Milch brachte den Löwenanteil des Einkommens, das Getreide – je nach weltwirtschaftlicher Preislage und EU-Politik – einen zusätzlichen Beitrag, der mal mehr, mal weniger hoch war. »Hauptsache, man zahlt nicht drauf«, waren Augusts Worte, wenn das Gespräch darauf kam, und mitunter musste man sich Gedanken machen, ob sich der immens hohe Aufwand der Bodenbearbeitung, der Unkraut- und Schädlingsbekämpfung, des Säens und Spritzens lohnte, wenn der Erlös gerade mal die investierten Kosten ausglich. Und da die Milchpreise in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten waren, hatte es August manch schlaflose Nacht gekostet, in der er darüber nachdachte, wie hoch der Kredit sein musste, um den neuen Laufstall zu errichten und den zugehörigen Melkstand zu kaufen. Aber Landwirte, die nicht investierten, wären in wenigen Jahren am Ende, so hatten die Banker und Berater ihm immer wieder in den Ohren gelegen. Schließlich hatte er es getan. Ein nagelneuer Kuhstall, in dem die Kühe sich weitgehend frei bewegten, ein ultramoderner Melkstand, alles neu, glänzend, »eben einfach schön«. Das hatte er gestern noch Jakobus de Ruyter erzählt, der beeindruckt mit dem Kopf genickt hatte. De Ruyter hatte einen anderen Hof im Polder. Hier kannte jeder jeden. Nun zwang sich August also, mehr an die Vorzüge der Hochtechnologie und den schmucken Stall zu denken und weniger an das Geld, das dabei Monat für Monat von seinem Konto verschwand – auch wenn die Zinsen für den Kredit vergleichsweise gering waren. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er überhaupt bewilligt werden würde – die Banken stellten sich in den letzten Jahren sehr an, wenn es um Kredite für Landwirte ging.

      »Ich muss jetzt gehen«, rief Augusts Vater seinem Sohn zu. »Du weißt ja, Mutter und ich gehen heute Abend ins Theater, da muss ich mich noch stadtfein machen. Ich habe man noch gerade eine Stunde Zeit, sie wird wohl schon auf heißen Kohlen sitzen.«

      Sein Sohn grüßte nur kurz mit der Hand und bedeutete ihm damit gleichzeitig, dass er den Rest ohne Probleme schaffen würde. Sein Vater

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