Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

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Tatort Nordsee - Sandra Dünschede

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jeden Abend zeichnete sich die gerade Linie der Deichkrone gegen den Horizont ab – vorausgesetzt sie hatten nicht mal wieder Sauwetter. Doch Wiard war eher beunruhigt. Und das, wie er meinte, aus gutem Grund. Er hatte selbst am Deich mitgearbeitet und später bei allerhand Stellen und vielen Personen Informationen eingeholt. Einem inneren Gefühl folgend, war er mehr und mehr dem Gedanken verfallen, dass mit dem Deich etwas nicht in Ordnung war. Die gerade Linie der Deichkrone kam ihm manchmal gar nicht so gerade vor. Er war diesem Gefühl nachgegangen und hatte aufgrund seiner Recherchen so seine Vermutungen. Doch was dieses Gefühl des ›Nicht-in-Ordnung-Seins‹ nährte, konnte er noch nicht in eine schlüssige, nachvollziehbare und vor allem glaubwürdige Erklärung umsetzen. So behielt er das Ganze erst einmal für sich. Tag für Tag war er zum Deich gegangen, hatte ihn gründlich in Augenschein genommen und den Eindruck gewonnen, dass nicht immer mit der Sorgfalt vorgegangen worden war, die man bei guter Deichbaupraxis hätte erwarten können. Hier und da Schludrigkeiten bei Pflasterungen am Deichfuß, kahle Stellen in der Grasnarbe (oder waren das Schafe gewesen? Nein, die machen die Grasnarbe ja eben nicht kaputt), insbesondere aber der Eindruck, dass es Stellen gab, an denen der Deich ›weich‹ war, machte ihm zu schaffen. Dieses Gefühl versuchte er mit seinen Recherchen und den Erfahrungen während der Zeit, die er selbst am Deich mitgearbeitet hatte (einige Monate sozusagen als ›Mann für alles‹), in Einklang zu bringen. Er wusste, so dachte er, ein paar Dinge, die andere nicht wussten und die er bislang als unwichtig abgetan hatte. Jetzt wurde er diesen Gedanken nicht mehr los. Und neulich hatte er beim Feuerwehrfest im Polder einen über den Durst getrunken und Georg Redenius (»hohes Tier bei der Küstenschutzbehörde«; was hatte der da eigentlich verloren?) erzählt, der Deich sei doch »qualitativ eine Katastrophe, einfach scheiße gebaut«, das hätte doch nur mit »Bestechung und Korruption« zugehen können, dass diese Pfuscherei durch die beaufsichtigenden Behörden nicht geahndet worden sei. Klar, am nächsten Morgen hatte er sich sehr über diese Äußerungen geärgert (sofern er noch von ihnen wusste), aber ihm war im Kopf geblieben, dass Redenius, den er rein zufällig bei einigen Runden Schnaps kennengelernt hatte, plötzlich sehr ernst geworden und etwas rötlich im Gesicht angelaufen war und, als Wiard weitersprach, ihn angefahren hatte, er solle jetzt aufhören mit dem Deich, sonst bekomme er eins auf die Nase … So reagierte man doch nicht, zumal Wiard gleich beschwichtigt hatte, es wäre doch nur ein Spaß gewesen (obwohl er es eigentlich ernst gemeint hatte).

      Der Vorfall lag nun aber schon einige Zeit zurück, und Wiard kramte wieder in seinen Deichunterlagen, in Plänen, Karten, Notizen, sah sich Fotos an, analoge und digitale, alle vom Deichbau und vom Deich jetzt, wie er dort stand. Wiard dachte nach. Immer wieder betrachtete er die Bilder der Stellen, an denen die achtkantigen Steine unten, am Außendeich auf der Asphaltabdeckung, ein wenig eingesackt waren. Es fiel dem Laien sicher nicht gleich auf, doch Wiard kannte den Neubau und den jetzigen Zustand, nur wenige Monate später. Wie konnte das sein? Und – durfte das sein?

      Wiard wollte gerade einen Schluck aus der Tasse dampfenden Tees nehmen, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Plötzlich ein lauter Knall. Die vorherige Stille und Gemütlichkeit des kleinen Landhauses wurde von einem Klirren und Splittern durchbrochen. Glasscherben flogen umher. Sich zur Seite drehend, sah Wiard einen Gegenstand durch das Fenster fliegen, duckte sich instinktiv, was nichts nutzte, denn ein harter Schlag traf ihn am Kopf. Der Treffer saß – etwas unterhalb der linken Schläfe. Wiard kippte seitlich vom Stuhl, einem alten, vierrädrigen Schreibtischstuhl, der sich jetzt unter ihm wegdrehte. Auf dem Boden liegend, fühlte er noch mit der rechten Hand an die pochende Stelle. An seinen Fingern klebte Blut. Sein Kopf dröhnte, es war kaum auszuhalten. Dann wurde es dunkel um ihn.

      August und Henrike hatten es tatsächlich noch zu dem gemeinsamen Glas Wein geschafft. Er war gut gewesen (der Wein), und am nächsten Morgen stand August gegen 6 Uhr wieder im Melkstand. Er hatte seinem Vater gesagt, er solle liegen bleiben, da es am Abend vorher sicher spät werden würde. Die Vorstellung der Heimatbühne hatte, Pause eingerechnet, bis weit nach zehn gedauert, und meistens trifft man in einer kleinen Stadt ja noch den ein oder anderen Bekannten. Augusts Eltern lagen in der Regel zwischen neun und halb zehn im Bett, jetzt im dunklen Herbst sowieso, da war ein Nachhause-Kommen kurz vor Mitternacht die absolute Ausnahme, über die man noch lange würde reden können. Er war sich dennoch sicher, dass sein Vater früher oder später auftauchen würde. Nach so vielen Jahrzehnten des Daseins als Bauer war ihm das morgendliche Melken in Fleisch und Blut übergegangen. Augusts Vater konnte nicht anders – und hätte es als bedrohliche Alterserscheinung empfunden, morgens das Melken zu versäumen. Warum auch, dachte er, sollte er sich – obwohl er noch mitanpacken konnte – hinsetzen und Däumchen drehen? August und Henrike versuchten ihm immer wieder klarzumachen, dass er sich vielleicht am Ende doch ärgern würde, wenn er immer nur gearbeitet und nicht auch noch ein wenig den Lebensabend genossen hätte. Dazu meinte der alte Saathoff, die Arbeit auf dem Hof sei »sein Leben« und nichts genösse er mehr als diese. Aber er unternahm nun gelegentlich Dinge mit seiner Frau, die er früher nie gemacht hatte, eben – wie am Abend zuvor – mal zur Heimatbühne gehen (»dat word laat, dat word laat« – seine Sorge über den langen Abend war gegen die Vorfreude auf das Theaterstück in der Stadt kaum aufzuwiegen).

      Nach dem Melken wollte August zu seinem neu gepachteten Ackerland fahren. Wieder hatte ein Bauer im Polder aufgegeben – auch eine Folge der Politik, die immer noch auf zunehmend größere Einheiten setzte, wobei die Kleinen kaputtgingen, wenn sie sich nicht ganz besonders spezialisierten. Einige Biohöfe fristeten ihr Dasein, nur wenigen ging es finanziell wirklich gut. Die konnten es sich leisten, die Kühe, Schweine und Hühner frei rumlaufen zu lassen und damit zu werben – aber dementsprechend waren die Erzeugnisse für den Durchschnittsbürger auch kaum bezahlbar, wie August immer wieder betonte, wenn es sich um dieses Thema drehte. Er selbst war konventioneller Landwirt mit der festen Überzeugung, ökologischer zu sein als mancher, der sich so bezeichnete. Das war seine Meinung. Da hatte Wiard andere Ansichten. Aber diese Gedanken flogen ihm während des Melkens nur so zeitweise durch den Kopf. Wie sie eben kommen und gehen, wenn man gerade etwas ganz anderes macht. Eigentlich wollte er überlegen, was er zu seinem neuen Pachtland mitnehmen sollte, schließlich musste es für das Frühjahr so fit gemacht werden, dass er darauf aussäen konnte, und da war noch einiges vorzubereiten.

      Auf dem Weg dorthin würde er kurz bei Wiard vorbeischauen, der nicht viele Leute im Polder hatte, mit denen er ernsthaft reden konnte. Und das tatsächlich besonders, seitdem er nicht mehr beim Finanzamt arbeitete. (»Da kannst mal sehen, worauf viele Leute ihre Urteile über andere gründen«, hatte er zu August gesagt. Dem war dabei ein Licht aufgegangen.) Aber Wiard hatte natürlich damals auch den Lohn- oder Einkommensteuerantrag einiger Polderbewohner auf den Tisch bekommen, was für fast alle der Anlass war, sich zwar mit ihm gut zu stellen, aber dennoch sehr zurückhaltend zu sein. Sie wussten nicht, für welche Buchstaben im Alphabet er zuständig war, und wenn er vielleicht nicht direkt ihre Anträge bekam, so kannte er ja doch die Kollegin oder den Kollegen (»Also, der Lüpkes weiß doch, dass das Zimmer, dass ich jedes Jahr als Arbeitszimmer absetze, nichts anderes ist als unsere Wäschekammer …«). Wiard hatte zwar öfter erklärt, dass er ohnehin über keinerlei Handhabe verfüge angesichts strenger Richtlinien und Maßstäbe der Finanzverwaltung (auch wenn immer wieder welche gekommen waren, etwa beim Sportfest, und Wiard einen ausgaben mit den nur wenig später folgenden Worten: »Du Wiard, du büst doch bi’t Finanzamt, kannst du neet so ’n bittje doran dreihen, dat ick neet jümmers so vööl Stüern betalen mutt, ik hebb da ’n Idee …«). Auch das hatte er schließlich aufgegeben. Den Leuten zu erklären, dass das eben doch kein Selbstbedienungsladen sei, der für die, die Beziehungen haben, mehr Kohle lockermache als für andere, dazu hatte er einfach keine Lust mehr. Gleichwohl wusste Wiard tatsächlich über die finanziellen Verhältnisse einiger Polderbewohner ganz gut Bescheid, hatte zwar Stillschweigen darüber zu bewahren, aber einige trauten ihm eben bis heute nicht. Seitdem er nun nicht mehr Amtmann war (nach den Sportfesten war er tatsächlich ein ums andere Mal voll wie ein Amtmann gewesen …), sondern freien Tätigkeiten mehr oder weniger nach Lust und Laune nachging, er außerdem besagte Hobbys weiterentwickelte, die in der Allgemeinheit des Polders und darüber hinaus eher als ›spinnert‹ abgetan wurden (»wat kann man dor mit denn anfangen?«), steckte

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