Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
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»Genever?«, meldete Wiard sich zurück, ohne auf die Frage einzugehen.
»Bist du verrückt? Bloß nicht, keinen Alkohol heute und schon gar nicht Genever. Ich hab noch das letzte Feuerwehrfest in unguter Erinnerung. Holl mi up.«
An besagtem Abend hatte August allzu viel von dem Hochprozentigen getrunken und war mit einem ziemlich dicken Kopf am nächsten Morgen aufgewacht, wobei ihm nicht gleich einfiel, wie er eigentlich dorthin gekommen war, mit oder ohne Fahrrad, mit dem er auf jeden Fall hingefahren war.
»Pass auf, dass deine Kühe nicht duhn werden«, hatte ihm sein Vater beim morgendlichen Melken in Anspielung auf seine Fahne zugeraunt. Das Aspirin, das er gleich nach dem kurzen Frühstück eingeworfen hatte, half auch nicht viel.
»Ich glaube, meine Kopfverletzung hat durchaus mit der Feuerwehr zu tun, vielmehr mit dem letzten Feuerwehrfest. Ein Pils?«, fragte Wiard aus seiner kleinen Küche.
»Na ja, ein Bier kann wohl nicht schaden.«
»Nee, keinesfalls, ist ja kein Alkohol, sondern flüssiges Brot«, ergänzte Wiard und fügte hinzu: »Deshalb können auch mehrere nicht schaden.«
»Sag mal, ansonsten ist alles in Ordnung mit dir? Ich versteh nur Bahnhof. Wieso soll das Fest mit deiner Verletzung zu tun haben? Beides liegt drei Wochen auseinander. Also für mich ergibt das keinen Sinn.«
Wiard kam mit zwei Flaschen Jever Pils wieder herein und setzte sich an den Tisch, an dem August schon Platz genommen hatte. In seinem Wohnzimmer herrschte eine bemerkenswerte Unordnung, er selbst nannte es ›das organisierte Chaos‹. In jedem Chaos gäbe es schließlich eine gewisse Ordnung, zumindest behaupteten das doch die Wissenschaftler. Wiard fand sich jedenfalls darin zurecht, und – was viel wichtiger war – er fühlte sich wohl. August staunte immer wieder, wie man es länger als zwei Tage in diesem Haus aushalten konnte, er liebte eine gewisse, nicht übertriebene, aber doch sichtbare Ordnung und konnte rasch nervös werden, wenn er Dinge, die er suchte, nicht gleich fand. Immer wieder kam es vor, dass er ein bestimmtes Werkzeug suchte und sich dieses nicht am dafür vorgesehenen Platz befand – meistens hatte eines seiner Kinder es dann benutzt und nicht wieder zurückgelegt. Er hatte sich zwar abgewöhnt, sich über so etwas aufzuregen, gleichwohl fragte er sich immer wieder, ob es nicht erlernbar wäre, die Sachen zurück an ihren Platz zu bringen, wenn man sie nicht mehr brauchte. Bislang hatte aber weder Freerk, schon gar nicht den kleinen Gero davon überzeugen können. Bei Gero war das noch egal, bei Freerk hingegen machte er sich langsam Sorgen – schließlich dauerte es nicht mehr lange, und er würde allein im Leben zurechtkommen müssen, da war ein bisschen Ordnung halten doch wohl mehr als angebracht. Manchmal dachte August dann aber auch, er würde nun doch älter, denn er erinnerte sich an ähnliche Diskussionen und manchen Ärger mit seinem Vater wegen solcher Dinge. Aber wer sollte das vermitteln, wenn nicht er oder Henrike?
»So, was ist nun? Halt mich nicht länger hin!«, leitete August das Gespräch ein. Wiard war erstaunlich lang mit dem Öffnen der Bierflaschen und der Suche nach Bierdeckeln beschäftigt, die er unter die Flaschen schob. Das war angesichts seines ansonsten nicht so ausgeprägten Ordnungssinnes erstaunlich, aber Bierdeckel gab es bei Wiard immer, er sammelte sie, sagte er, allerdings lagen sie alle in einer Schublade, ohne dass er jemals dazu kam, sie anzusehen oder anderen zu zeigen. Mehrfach vorhandene bekamen Gäste unter ihre Flasche oder das Glas geschoben, allerdings wusste er nicht immer, welche er mehrfach besaß. Wiard murmelte »Gläser lass’ ich mal weg.« Dann setzte er deutlicher fort:
»Ja, weißt du, das ist nicht ganz leicht zu erklären. Ursprünglich war es nur eine Vermutung, die ich da hatte. Nun aber stehen die Dinge anders, jetzt nach dem Anschlag …«
»Anschlag?«
»Ja, ich nenne das einen Anschlag. Übrigens – um dir klarzumachen, dass es ein Anschlag war –, wenn Jan Peters wegen seiner Sauflust nicht reingekommen wäre, hätte ich laut den Ärzten im Kreiskrankenhaus gut und gerne hier in meiner Hütte verbluten können. Dann säßen wir hier jetzt nicht mehr so schön zusammen, August. Ich wäre mausetot!«
»Wiard, du musst schon der Reihe nach erzählen. Mausetot? Gott bewahre … Aber wieso denn nur?«
»Hast ja recht. Ich versuch’s mal eins nach dem anderen. – Also, du weißt doch, dass ich während des Deichbaus bei dieser Zeitarbeitsfirma angestellt war.«
»Ja, klar, hast mir ja einige Male davon erzählt.«
»Ich hatte da mehr so einen Handlangerjob, hier mal helfen, da mal helfen, Schubkarre hierhin, Steine dorthin, graben, Soden im Heller stechen, ausbessern, was weiß ich nicht alles. Schöne Arbeit, körperlich anstrengend, aber ich hatte viel Zeit, nachzudenken, frische Luft und abends war ich völlig fertig – da konnte ich schlafen wie ein Bär, was sonst nicht immer der Fall ist.«
»Und?«, bohrte August.
»Ich bin kein Deichbauer, ich habe während der Monate immer genau gesagt bekommen, was ich tun soll. Das war ganz schön, wie gesagt, man kann dann während der Arbeit über andere Dinge nachdenken. Aber ich bin nun mal auch nicht ganz blöd, und ich habe allerlei mitbekommen, von dem andere meinten, dass es mich entweder nicht interessierte oder ich es nicht verstand.«
»Das hört sich ja geheimnisvoll an.«
»Ja, um Geheimnisse ging es dabei auch, und wenn ich nicht vor einigen Tagen eine interessante Beobachtung am Deich gemacht hätte – du weißt doch, gleich nach dem Sturm, war ja der erste Herbststurm dieses Jahres und das Wasser stand hoch –, dann hätte ich das Ganze vielleicht längst vergessen. Aber nun sind mir einige Erlebnisse während meiner Arbeit wieder ganz präsent, und ich brauche jemanden, dem ich mal davon erzählen kann. Weißt du, August, du bist einer der wenigen hier im Polder, die mich für richtig voll nehmen.«
»Du, beim Feuerwehrfest neulich, da haben dich aber viele für voll genommen, aber so richtig. Voll wie ein Amtmann eben.«
Wiard machte eine Pause und sah August mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er Augusts Witz zwar zur Kenntnis genommen hatte, aber in dieser Situation für unangebracht hielt. »Ach, sei jetzt mal ernst. Erinnerst du dich an den Typen an der Theke, mit dem ich eine ganze Zeit gesprochen habe, der vom Amt?«
»Ja, ganz dunkel, Georg Redenius, ich habe ihn erst dort kennengelernt. Wieso war der eigentlich auf unserem Feuerwehrfest?«
»Wahrscheinlich über Hanne Friesenga, weißt doch, deren Schwester ist verschwägert mit … ach, wie heißt der noch, jedenfalls ist der wieder irgendwie verwandt mit Redenius.«
»Was du so alles weißt.«
»Ja, aber das ist egal jetzt. Ich hätte mich fast mit ihm geschlagen … Oder vielmehr, er mit mir, ich schlage mich nicht. Jedenfalls hat er mir gedroht!«
»Dir? Nee, dir doch nicht!«
»Er wollte mir eins auf die Nuss geben. Doch. Ich war zwar duhn as’n Hex, aber so weit habe ich es noch in Erinnerung. Ist ja zum Glück nicht so weit gekommen. Aber es ist trotzdem wichtig – auch wegen des Anschlages. Aber ich erzähl mal der Reihe nach. Ich hatte bisher die Befürchtung, dass, wenn ich das, was ich dir jetzt erzähle, anderen erzählte, die sagen würden: ›Ach Wiard, lass man gut sein, mach dir keine Gedanken, du siehst Gespenster.‹« Wiard liebte Pausen, er wartete dabei sehr konzentriert die Reaktionen seines Gegenübers ab.
»Also, ich verstehe einfach nicht, worauf du eigentlich hinauswillst, Wiard, ich glaube dir gerne, aber was ist denn nun konkret los?« August nahm