Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
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Dafür fuhren wir am 13. März 1974 zu einem Länderspiel nach Berlin, wo die DDR-Elf gegen Belgien für die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft probte. Als einer von 30.000 Zuschauern erlebte ich, wie Joachim Streich zum 1:0-Sieg einköpfte. Auf der Heimfahrt diskutierten wir eifrig über das Spiel und ich merkte, dass mich mein Vater als gleichberechtigten Gesprächspartner akzeptierte. Fußball symbolisierte in meinen Augen das wahre Leben. Wer gut war, der eroberte den Ball, schoss ihn ins Tor oder daneben. Wer noch besser war, dachte vorausschauend, spielte ab und bekam den Ball wieder zurück. Das Leben funktionierte nur gemeinsam, nicht im Alleingang. Nach dieser Devise spielten sich mein Vater und ich die Bälle gegenseitig zu. Wir einigten uns, dass unsere Nationalmannschaft als krasser Außenseiter zum Turnier ins Nachbarland fuhr. Es war die erste Fußballweltmeisterschaft, die ich bewusst miterlebte. Den 22. Juni 1974 werde ich nicht vergessen, weil ich noch Bier für das Spiel am Abend holen musste. Der Sommer gehörte zu den Feinden der Getränkeindustrie, denn die Hitze machte selbst um unser kleines Land keinen Bogen. Im Dorfkonsum waren sämtliche Getränke ausverkauft. Nachschub kam frühestens in drei Tagen, denn die Brauerei lieferte zwecks Transportoptimierung dienstags und donnerstags. An diesen Tagen musste man sich mit Getränken bevorraten, wollte man nicht auf dem Trockenen sitzen. Notgedrungen fuhr ich mit einer Emaillekanne los, um Fassbier zu kaufen. Die Dorfgaststätte hatte wegen Urlaub geschlossen und der Wirt der Bahnhofskneipe machte Betriebsferien. Solche Zustände gab es nur bei uns. Die Zeit drängte, denn ich wollte das innerdeutsche Duell unter keinen Umständen verpassen. Als ich mit der leeren Kanne heimkehrte, rastete mein Vater aus. „Dann fährst du eben ins Nachbardorf!“, schnauzte er mich an. Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben, aber mein alter Herr meinte es ernst. „Beeil dich, sonst entgeht dir der Anpfiff!“ Mir blieb nichts anderes übrig, als mit dem Fahrrad ins drei Kilometer entfernte Nachbardorf zu radeln. Zum Glück war das marode Kopfsteinpflaster bereits mit einer Asphaltschicht überzogen. Auf dem Weg zur Gaststätte beleidigte ich meinen Vater mit übelsten Schimpfwörtern, die mir gerade einfielen. Ständig dachte er sich Schikanen aus, die mich vom Fußball ablenkten. Ich weiß bis heute nicht, warum er das tat. Die geöffnete Kneipe und das vorhandene Bier vom Fass im Nachbarort ließen meinen Ärger nicht abebben. Um meinem Vater einen kleinen Denkzettel zu verpassen, habe ich die halbe Kanne ausgetrunken, im Vorgarten mit Wasser aus der Regentonne aufgefüllt und ordentlich geschüttelt. Hätte er über die Blume gemeckert, wäre kein Tropfen Bier im Gefäß geblieben. Bei der Direktübertragung vom Spiel aus Hamburg schlief mein alter Herr dünnbierselig vor dem Fernseher ein. Als Sparwasser zum 1:0 einschoss, begann das große Zittern. Eine Viertelstunde später sprang ich vor lauter Freude aus dem Sessel, denn ich hatte das Ergebnis nie und nimmer für möglich gehalten. Es war nicht der Sieg der sozialistischen DDR gegen die kapitalistische BRD, wie es am Montag danach in unseren Zeitungen stand. Diese Propaganda habe ich in dem Alter noch nicht verstanden. Aber ich begriff, dass man mit festem Willen, höchstem Einsatz und hartem Kampf jeden Gegner schlagen konnte.
Diese Erkenntnis prägte mein weiteres Fußballerleben, denn ich habe stets 100 Prozent für die Mannschaft gegeben, in der ich spielte. Es war eine Auszeichnung, das blaue Trikot mit dem gelben Bruststreifen zu tragen, mit dem mein Heimatverein im Jahre 1966 den Pokal „Goldener Traktor“ des Bezirkes Frankfurt gewann. Darin fühlte ich mich dem Verein und den Zuschauern gegenüber verpflichtet. Ich wollte den Menschen, die uns bei Wind und Wetter die Treue hielten, unbedingt etwas zurückgeben. Da das nicht immer klappte, stiegen wir in die Kreisliga ab. Doch wir kämpften bis zum Umfallen, wofür uns die Einwohner auf Biegen und Brechen unterstützten. Manchmal blieb sogar ein Krückstock am Knie eines gegnerischen Spielers hängen, um dessen Tatendrang zu stoppen. Für die Zuschauer in meiner Heimat ist Fußball eine Art Weltanschauung oder zweite Religion gewesen. Ich erinnere mich an eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen den eigenen Schlachtenbummlern und unserem Trainer während eines Punktspiels. Wir lagen deutlich hinten und fanden keine Mittel, das Spiel noch zu drehen. Laut Meinung unserer Fans hatte der Übungsleiter die falschen Leute aufgestellt und bezog dafür eine ordentliche Abreibung. Das Spiel musste vom Schiedsrichter unterbrochen werden, um die Prügelknaben auseinander zu bringen. Jede Partie werteten unsere Kritiker abends in der Gaststätte aus. Im Falle einer Niederlage brauchten wir uns dort nicht blicken lassen. Mir gefiel es im Nachbardorf besser als in unserer 500-Seelen-Gemeinde, die im tiefen Dornröschenschlaf schlummerte. Dieser Stillstand sah auf den ersten Blick romantisch aus, befriedigte mich jedoch nicht. Drei Kilometer weiter östlich ging die Post ab. Der Nachbarort stellte eine Republik mit eigenen Gesetzen dar, wozu die Dorfbewohner im patriotischen Sinne standen. Auswärtigen war es bei Strafe verboten, Annäherungsversuche gegenüber einheimischen Mädels zu starten. Meine Mitgliedschaft im Fußballverein brachte mir automatisch den Status der Zugehörigkeit im Ort ein.
Früh entwickelte ich eine Schwäche für das weibliche Geschlecht. Leider stieß meine Neugier nicht auf Gegenliebe bei den Mädchen. Vielleicht war ich den meisten zu pummelig und daher auffällig, anderen wiederum zu unauffällig, weil ich immer in den gleichen Klamotten herumrannte. Ich musste die abgelegten Sachen meines Vaters tragen, denn meine sparsame Mutter konnte sich von keinem Stück trennen. Sie fragte ständig, ob das nicht alles zu teuer wäre und wozu ich denn ihr Geld bräuchte. Dabei begnügte ich mich mit nachgemachten Westjeans und -nickis vom Markt im polnischen Stettin. Meine Fahrten mit dem Zug dorthin gestalteten sich zu unvergesslichen Erlebnissen. Bei der Ankunft auf dem Bahnsteig sah ich zum ersten Mal richtige Bettler, die es im real existierenden Sozialismus gar nicht geben durfte. Arme Menschen, die da vor uns auf Knien hockten, verfrachtete man hinter das Gebäude, wo sie nicht gleich ins Auge fielen. Aus Mitleid bot ich einem alten Mann meine Frühstücksbrote an. Auf die Idee, mein Taschengeld zu verschenken, kam ich nicht. Beim illegalen Geldumtausch auf der Straße wurden wir oft übers Ohr gehauen. In dunklen Fluren drehte man uns alte, ungültige Zloty-Noten an. Auf dem Markt konnten wir mit Ostmark bezahlen. Die Händler nahmen unser Spielgeld gern, um damit in der DDR einzukaufen. So schloss sich der Kreis und die Alu-Chips, die kaum etwas wogen und genauso wenig wert waren, landeten wieder im Inland.
Meine übrige Kleidung stammte von der volkseigenen Stange unserer Jugendmodeläden. Die Klamotten fand ich praktisch und mich störte es nicht, dass andere in den gleichen Sachen herumliefen. Auf Modelle unserer Jeansklassiker Boxer und Wisent verzichtete ich, weil sie den Eindruck vermittelten, dass der Träger keinen Hintern in der Hose haben durfte. Die mir fehlende Attraktivität versuchte ich mit netten Gesten und Geschenken auszugleichen.
Während der Jugendstunden zur Vorbereitung auf die Jugendweihe absolvierte ich einen Knigge-Grundkurs, um den Mädchen jeden Wunsch von den Augen ablesen zu können. Ich lernte, freundlich und hilfsbereit zu sein, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Außerdem brachte man mir die Standardtänze bei.
Auf einer Klassenfahrt zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte nach Buchenwald machte ich eine äußerst unangenehme Erfahrung, als ein Mitschüler versuchte, mir näher zu kommen. Wir übernachteten in der Jugendherberge auf dem Ettersberg. Bei der Vorstellung, in einer ehemaligen SS-Kaserne zu schlafen, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Während die anderen in den Fernsehraum zogen, um sich abzulenken, blieb ich mit Dirk im Zimmer. Wir saßen auf dem Bett, quatschten miteinander und leerten eine Flasche Rosenthaler Kadarka. Dabei muss ich irgendwann eingenickt sein. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht meines Klassenkollegen, der auf mir lag. Sein Herz raste. Bevor er mich küssen konnte, packte ich den schmächtigen Kerl an den Oberarmen und schubste ihn von der Matratze. Dirk verkroch sich vor Scham unter seiner Bettdecke, wo ich ihn schluchzen hörte. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass ich seine Zärtlichkeiten erwidern würde. Der Mensch tat mir echt leid, weil er sich falsche Hoffnungen machte. Ich blieb im Zimmer und hörte mir Dirks Entschuldigung an, die auf Erlebnissen aus dem Konfirmandenunterricht basierte. Der Pfarrer seiner evangelischen Kirchengemeinde nutzte die Nachmittage, ihn und die anderen Jungen des Seminars unsittlich zu berühren. Aus dem Verhalten des kirchlichen Würdenträgers schloss er, dass die Kontakte völlig normal seien. Ich konnte meinen Mitschüler nicht trösten und musste ihm versprechen,