Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt
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In diesen Wochen kämpften Dennis und Para gegen die Mafia in Peru, um ihre Familie zu schützen. Théra hatte davon natürlich keine Ahnung. Sie war ja noch viel zu klein um zu begreifen, dass es wichtige Pflichten für einen Vater gibt, die weit über die persönliche Anwesenheit hinausgehen. Théra litt unter dieser Abwesenheit. Als Para und Dennis dann wieder in ihrem Leben auftauchten, empfand Théra so etwas wie Glück.
Man kann darüber streiten, ob ein vier oder fünf Monate altes Kind bereits den Begriff des Glücks kennt. Physisch und auch psychisch erlebte Théra dieses Glück wirklich. Dieses Glück des Wiedersehens und die Wiederaufnahme dieser wärmenden Energieströme. Diese zärtlichen Stimmen und diese Gesänge, und diese Erzählungen, die so ganz anders waren, als bei ihrer Mutter. Nicht besser oder schlechter. Sie waren anders.
Théra hatte längst die Bewegungen ihrer Mutter in sich aufgenommen, ihre leichten Schritte und ihre Art sich fast schwerelos zu bewegen. Sie hatte die Herztöne der Mutter gehört und sich im Schritt ihrer Bewegungen gewiegt. Sie nahm auch die ruhige Stimme der Mutter auf, warm und doch klar und sicher, wenn sie mit ihren Mitarbeitern sprach. Sie kannte ihre liebevollen Hände, die sie umfassten, badeten und wickelten. Alles an Mutter war vertraut.
Ihren beiden „Väter“ waren anders. Sie hatten dieselbe Zärtlichkeit wie Mama, aber ihr Vater hatte kräftige Hände, viel größer als die ihrer Mutter. Sie hatte das Gefühl, sie konnte sich hineinlegen in diese großen Hände voller Geborgenheit. Paras Hände hatten hingegen nur die Größe von Mamas Händen. Aber es war manchmal, als wenn sie Funken sprühten, die wie ein Goldregen über Théra auf- und niedergingen.
Para und Dennis sorgten wirklich für Théra.
2.
Als Théra vier Monate alt war, zog sie mit ihrer Mutter aus diesem festen Haus (was Théra damals natürlich noch nicht als „das Hotel“ begreifen konnte) in ein kleines Haus aus Holz um. Es war die Zeit, als „ihre beiden Väter“ für eine Weile fortgingen.
Dieses Holzhaus war anders. Es lebte.
Es war nicht nur dieses Material, was Feuchtigkeit und Wärme transportierte und sich ausdehnte und zusammenzog, und manchmal knackte. Es gab hier viele kleine Tiere: Spinnen, Ameisen, Tausendfüssler, Schaben und kleine gepanzerte Insekten, die sich immer, wenn sie danach fasste, zu einer Kugel zusammenrollten.
Théra beobachtete all das mit wachen Augen. Sie war weit entfernt davon, mit diesen Tieren zu sprechen, aber sie nahm vorsichtig den Kontakt auf. Sie beobachtete.
Sie war zunächst viel zu ungelenk, um diese Tiere mit ihren Händen zu begreifen. Fliegen setzten sich oft auf ihren Kopf, ihre Hände oder ihre nackten Beine. Das kitzelte. Manchmal wurde Théra von diesen Fliegen belästigt. Sie machten mit Théra, was sie wollten. Manchmal gefiel Théra das gar nicht. Théra gab unverständliche Laute von sich. Manchmal grifff sie nach diesen Tieren.
Als dann Dennis und Para wieder zurückkamen und ihr diese spezifische Wärme zurückbrachten, die nur Para und Dennis hatten, da wurde Théra immer wacher. Sie begann zu krabbeln, sie begann mit ihren Händen nach den Tieren zu greifen. Para und Papa erzählten von den Tieren, und sie lehrten Théra Unterschiede zu sehen, wenn auch auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe.
Später lernte Théra zu unterscheiden.
Als sie ein halbes Jahr alt war, spielte Théra bereits mit all diesen Tieren. Sie hatte längst begriffen, dass man diese Tiere nicht essen konnte. Sie ließ die Tiere auf ihren Armen und ihren Beinen herumspazieren. Sie nahm sie mit ihren patschigen Händchen vorsichtig auf, und setzte sie auch wieder auf den Boden, wo sie manchmal in den Ritzen verschwanden, um woanders wieder aufzutauchen. Théras Laute hatten sich verändert. Sie gurrte, pipste und plapperte.
Auch auf der Wiese vor dem Haus gab es solche Tiere. Viel mehr davon. Es gab kleine Vögel die hin-und herflogen und zwitscherten. Théra hörte zu und zwitscherte mit ihnen. Sie sah, wie die Vögel nach Würmern und Insekten pickten und sie verschluckten.
Es gab in dem Holzhaus Mehlmotten. Théra sah zu, wie ihr Vater die Schlupfwespen rief, um die Mehlmotten zu vertilgen. Ihr Vater rief die Spinnen, um die Silberfischchen aufzuessen.
Sie lernte schnell, aber noch ein wenig diffus, dass die Welt der Tiere durch einen Zyklus aus Leben und Tod bestimmt wird. Zunächst verstand sie nicht, warum ihr Vater diese Tiere rief, um andere Tiere zu töten, doch Papa versuchte ihr das zu erklären. Sie konnte das mit ihren sechs Monaten natürlich noch nicht verstehen.
In dem Holzhaus gab es Mäuse. Auch die lebten von Insekten, aber auch von Getreide, Käse oder Speck, den sie Théras Mutter stahlen. Théra liebte diese Mäuse. Sie nahm Kontakt zu ihnen auf, fiepste mit ihnen, und es war bald so, als würden die Mäuse Théra verstehen.
Théra beobachtete die Mäuse genau. Speck und Käse gab es genug. Sie hatte nichts dagegen, wenn die Mäuse sich bedienten.
Ihr Vater untersagte den Mäusen bald, sich im Haus aufzuhalten. Théra verstand das anfangs nicht. Manchmal lud sie die Mäuse heimlich ein und führte sie in die Speisekammer, aber bald weigerten sich die Mäuse der Einladung zu folgen. Dennis hatte es ihnen verboten. Dennis hatte viel mehr Macht als Théra. Er konnte mit den Mäusen sprechen, er galt bei ihnen als großer Zauberer. Die Mäuse spürten seine Aura und die manchmal gefährliche, ja tödliche Kraft, die in seinen Händen lag. Sie wussten, dass Dennis verstand, was die Mäuse sagten. Er sprach ihre Sprache. Er hatte für die Mäuse eine Miete hinter dem Haus gebaut, in dem alle möglichen Essensabfälle landeten, von denen die Mäuse jetzt gut leben konnten. Er war gütig, er tat ihnen nicht weh und er bat sie manchmal um einen Gefallen. Aber Dennis war strikt, was dieses Verbot anbetraf. Die Mäuse achteten das Verbot des Mannes, der für sie „der Thénnis“ war. In den Augen der Mäuse war Dennis ein Gott.
Théra hatte längst gelernt zu krabbeln und sich überall an Gegenständen hochzuziehen. Sie machte ihre ersten Gehversuche. Ihre Laute wurden immer deutlicher, und sie konnte sich inzwischen mit all diesen Tieren unterhalten. Sie hatte begriffen, dass für die Mäuse eine eigene Futterkrippe hinter dem Haus angelegt worden war. Oft besuchte sie die Mäuse und sah ihnen beim Essen zu. Die Mäuse kannten Théra längst und liefen nicht weg. Vor Théra, vor Dennis und auch vor Para brauchten sie sich nicht zu verstecken. Die drei waren keine Gefahr für die Mäuse.
Mit acht Monaten konnte Théra nicht nur die Mäuse, sondern auch all die anderen Tiere rufen: Die Fliegen, die Spinnen und die Tausendfüssler. Es war ein Gemisch aus Lauten, Körpersprache und einem seltsamen Energiefeld, das Théra ausstrahlte und auf das diese Tiere reagierten. Théra konnte sie mit ihrem Energiefeld rufen und auch wieder wegschicken. Dennis und Para hatten diese Fähigkeit, und sie hatten auch Théra diese unbändige Kraft gegeben.
Théra verstand bald, dass Spinnen von dem Blut und der Körpersubstanz anderer Tiere leben. Sie sah, dass andere Tiere von Zucker, Hautschuppen, Holz, vom Saft von Pflanzen oder von Mehl leben.
Papa und Para erzählten ihr vieles von den Tieren.
Théras Mutter war im Sommer sehr beschäftigt. Sie nahm Théra anfangs mit in die Ausgrabung (die sie leitete), später übergab sie Théra an Dennis und Para, manchmal an ihre Freunde im Hotel, das nur fünfzig Meter neben ihrer Holzhütte lag.