Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt
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6.
Als die Sporthalle und die Eventhalle fertig waren, die dort neben em Hotel gebaut worden waren, diese muschelförmigen Gebäude, die sich bis hinauf in den Himmel hoben, da begann Papa regelmäßig verschiedene Musiker einzuladen. Es entwickelte sich bald ein weiteres Zentrum in dem indianische Musik genauso gepflegt wurde wie klassische Musik.
Théra nahm an diesen Ereignissen von Anfang an Teil. Sie lernte, dass es ganz verschiedene Musikrichtungen gab. Jede hatte irgendetwas besonders schönes. Da gab es einen Klavierspieler. Papa hatte sie in dieses Konzert mitgenommen. Théra hatte mit wachen Augen und Ohren dagesessen, der Mund stand offen. Speichel tropfte aus den Mundwinkeln, so vertieft war Théra in diese Musik. Sie sabberte Dennis das ganze Hemd voll. Später schlief sie in seinen Armen ein.
Manchmal kamen Gruppen, die indianische Musik spielten. Théra kannte das aus der Indiosiedlung, dennoch klang es anders.
Schließlich kamen auch Conny, Armando und Fatima. Natürlich kannte sie diese Namen nicht. Aber Mama und Papa nahmen sie mit. So etwas hatte Théra noch nie gehört. Die Musik blieb in ihrem Kopf. Noch lange nachdem die Musiker aufgehört hatten zu spielen.
Théra hatte auf Papas Schoß gesessen. Sie hatte die Ärmchen zu der Musik gestreckt. Manchmal bewegte sie die Ärmchen im Takt der Musik und wiegte mit dem Kopf. Sie hatte fieberheisse Wangen und ihr Atem ging schwer und stoßweise. In dieser Nacht prägte Théra ein eigenes Wort für Musik. Es klang wie eine Mischung aus Geige, Panflöte und dem Gesang Fatimas. In den Folgetagen sang sie immer wieder diese Art der Musik. Manchmal saß sie bei Papa oder Para auf dem Schoß, manchmal bei Mama. Théra sang und sang und sang.
Sie sang auch ihren Hunden vor, die dann anfingen zu kläffen und zu heulen, und der Gesang wurde dreistimmig, Théra und ihre zwei Hunde. Manchmal klang das schaurig, manchmal melodisch. Théra und ihre zwei Hunde hatten einen eigenen Gesang gefunden.
7.
Im Herbst war Papa dann fortgegangen. Mama, Para und einige Menschen im Hotel, die wirklich wichtig für Théra waren, blieben. Papa kam erst im nächsten Frühjahr wieder.
Théra lernte ihren ersten Winter kennen.
Sie spürte, wie es kalt wurde. Sie lernte, wie der Atem vor dem Mund „rauchte“, sie bekam warme Kleidung. Sie spürte die Kälte an ihren Händen, in ihren Lungen und an den Wangen. Sie lernte den ersten Schnee kennen. Diese wunderbaren weissen Flocken, die vom Himmel tanzten, manchmal so dicht, dass man durch dieses Treiben nicht mehr hindurchsehen konnte.
Sie sah, wie der Schnee liegenblieb, sie spürte, wie schwer es war, mit ihren kurzen Beinen gegen diese weisse Masse anzukämpfen. Sie erlebte, wie der Wasserfall im Tal zu einer einzigen großen Wassersäule gefror. Para hatte sie mitgenommen. Sie lebten ein paar Tage bei den Indios in der Hütte, die warm war von der Glut des Feuers. Sie erlebte, wie sich die Hunde vor das Feuer legten und mit ihr im Schnee balgten. Sie spürte den kalten Luftstrom, wenn sich die Tür öffnete und sie merkte, wie wichtig es war, dass sie draussen eine Mütze aufsetzte. Im Stall, bei den Hühnern, den Schweinen, den Gänsen und Ziegen war es immer warm. Manchmal warf sie sich quiekend ins Stroh.
Sie sah, wie die Lamas und die Maultiere mit den Hufen im Schnee scharren, um etwas essbares zu finden. Sie lernte, die Tiere mit Heu zu füttern, und sah wie ihre Schnauzen in der Kälte dampften. Manchmal setzte Para sie auf eines der Maultiere. Dann spürte sie die Wärme unter diesem dichten Fell. Sie legte sich hin und nahm die Wärme in sich auf. Ihre kleinen Hände griffen in den Winterpelz und hielten sich fest.
Para zeigte ihr, dass man auf Maultieren reiten kann. Das war wunderbar. Ein paar mal machten sie Ausflüge hinauf auf die Hochebene. Hier war der Schnee sehr tief. An Weihnachten ging der Schnee den Maultieren bereits bis zum Hals. Die Hunde waren schon lange vorher umgekehrt. Später konnte man gar nicht mehr hinauf.
Sie sah auch, wie sich Para ein paar Mal in einen Adler verwandelte und in die Lüfte hinaufstieg. Das war etwas ganz Neues für Théra. Sie sah zu und staunte.
Sie war noch viel zu klein, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, aber sie beobachtete und lernte.
In diesem Winter sah Théra zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum. Es gab hier in Peru keine Tannen. Bübchen hatte irgendeinen jungen Baum abholzen lassen. Er hatte sich aus Deutschland bunte Kugeln und Kerzen schicken lassen.
Der Baum stand in der Hotelhalle und Théra erlebte, wie unter den Arbeitern, den Wachleuten und den wenigen Gästen, die es im Winter hier gab, Geschenke getauscht wurden. Es wurde gesungen. Diese Klänge waren für Théra neu.
Bald wurden die Gesänge abgelöst durch die typischen indianischen Gesänge und Instrumente. Es wurde ein lustiges Fest und Théra träumte in den nächsten Tagen viel davon.
Im Winter lernte Théra auch erstmals die Schule der Indios kennen. Sie kannte das alles nicht, und sie verstand nicht genau, was die Erwachsenen da machten, aber sie sah, wie wichtig das für die Indios und die Wachleute war, was sie da machten. Einige Hotelgäste mischten sich dazu. Sie staunten über diese Schule, und sie ließen sich von der gutgelaunten Schar anstecken, und stellten ihr Wissen bereitwillig zur Verfügung. Es war im Hotel ganz anders als im Sommer.
Théra mit ihren 12 Monaten begriff instinktiv, dass das alles anders war, aber sie konnte das nur gefühlsmäßig begreifen. Es wurde mehr gelacht. Die Menschen genossen die Wärme der Öfen im Hotel, und die Kälte des Schnees ließ sie enger zusammenrücken. Es gab wunderbar duftende Kuchen und gefüllte Gänsebraten. Es wurde viel musiziert und Théra nahm all das tief in sich auf.
Auch von ihrer Mutter hatte sie in diesem Winter viel. Nicht nur, weil Alanque mehr Zeit für Théra hatte, als im Sommer. Théra bekam viel mehr von ihrer Mutter mit. Was mit sechs Monaten eher wie ein diffuses Erleben für sie war, das nahm sie jetzt alles mit wachen Augen auf. Sie stolperte überall mit ihren kurzen Beinen herum. Sie hatte im Laufen inzwischen viel mehr Sicherheit bekommen und sie genoß diese neue Freiheit. Sie hatte richtige Zähne bekommen, das Essen wurde nicht mehr wie früher nur gelutscht oder zwischen den Zähnchen hin und hergeschoben, sondern richtig gekaut. Alles war anders.
Théra lernte den Winter zu lieben.
8.
Als der Schnee taute und der Frühling Gras, Blumen und Blätter herbeizauberte, erlebte Théra schon wieder eine neue Welt. Ihre beiden Hunde wurden regelrecht übermütig. Sie tollten draussen herum und sie kläfften die Blumen, die Wolken und die Sonne fröhlich an.
Sie konnte die warme Kleidung endlich ablegen und tankte die ersten Sonnenstrahlen. Sie begann zu verstehen, was ihr Para über die Kraft und die Güte der Sonne erzählte.
Dann kam Papa wieder.
In ihrem zweiten Lebensjahr erlebte Théra alles viel intensiver und viel bewusster. Sie konnte jetzt selbstständig überall herumstapfen – auch wenn sie mit ihren eigenen Beinen noch keine großen Entfernungen überwinden konnte. Ihre Laute wurden immer klarer. Sie kannte längst solche Worte wie Papa, Mama, Para, Hund und Haus und sie kannte die Namen der Tiere und sie erweiterte ihren Wortschatz immer mehr.