Die Geburt der Schamanin. Hans-Peter Vogt
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Para hatte in der Hütte der Aymara warme Kleidung für sich und Théra deponiert. Es war schon lästig, dass Théra sich für solche Verwandlungen immer erst nackt ausziehen musste. Lamas oder Hunde tragen nun mal keine Menschenkleidung. Sie hatte jetzt begriffen, dass diese Verwandlungen ein Geheimnis waren. Die Aymara im Tal wussten allerdings davon. Para hatte sie verpflichtet, nie etwas darüber zu sagen.
Im Tal saßen sie mit den Kindern der Aymara Familie in der warmen Stube, Para lernte mit den Kindern und den Eltern schreiben, lesen und rechnen. Er erzählte indianische Märchen. Théra nahm all das in sich auf. Schreiben und lesen war noch sehr fremd. Sie konnte das nicht, aber sie hörte genau zu. Es gab bald einzelne Worte, die sie grob entziffern konnte.
Sie sahen nach den Hühnern und Gänsen. Théra liebte all diese Tiere. Sie waren für sie wie Brüder und Schwestern.
Dann kam der Tag, wo Théra von Para in ein leeres Hotelzimmer mitgenommen wurde. Er fasste sie an den Händen und bat sie, die Kleidung anzubehalten und zu versuchen zu erraten, was er gerade denkt. Théra konnte das nicht. Sie sah Para an, runzelte die Stirn, und sie versuchte es noch einmal und noch einmal. Dann hatte sie eine diffuse Ahnung von Fliegen und stand plötzlich in Papas Holzhütte im Tal des Wasserfalls. Para nahm sie mit hinaus in die Schneelandschaft. Théra staunte. Sie sah Para lange an und bat ihn, sie hochzunehmen, so dass sie in seinen Armen lag. Para setzte sie auf die Hüfte und Théra schlang ihre kleinen Arme um Paras Hals.
Es war das erste Mal, dass sie diesen Sprung machte. Diese Überwindung von Raum. Sie hatte gespürt, wie sie durch eine Art Tunnel flog. Warm und dunkel. Später sprang Para mit Théra zurück. Diesmal landeten sie in dem winterleeren und unbeheizten Holzhaus von Papa und Mama. Para hatte ihr erklärt, dass auch Papa solche Fähigheiten hat, und dass Théra mit niemandem darüber reden dürfe, auch nicht mit der Familie in ihrem Tal des Wasserfalls. „Das ist ein Geheimnis unserer Familie“, hatte Para gewarnt.
Er war mit Théra hinüber ins Hotel gegangen. An diesem Abend lag Para lange neben ihr im Bett, und erzählte von den Königen der Théluan Krieger, vom Urwald und von seiner eigenen Familie, seiner Mutter und seinen beiden Schwestern. Langsam begriff Théra, dass Para nicht ihr Onkel war, sondern ihr Bruder. Dass Papa auch der Papa von Para war, und dass Para aus der Vergangenheit gekommen war, um sie, Théra, zu beschützen. Théra lag mit roten Wangen neben Para. Manchmal richtete sie sich auf. Manchmal legte sie sich auf Paras Brust und hielt ihn mit ihren Ärmchen fest.
Sie verstand sehr diffus, dass ihre Familie eine lange und fast königliche Tradition hatte, die Théra mit der Vergangenheit verband, aus der Para gekommen war, um sie zu beschützen.
Inzwischen war es wieder Sommer geworden. Papa war längst wieder da. Théra hatte viele Fragen. Papa nahm sie jetzt oft in die Ausgrabung mit und erzählte Théra von diesem geheimnisvollen Volk, das einmal hier gelebt hatte und das Théras Familie war. Théra nahm das auf mit ihren zweieinhalb Jahren und sie bat Papa manchmal, mit ihr ins Tal des Wasserfalls zu springen.
Sie sah, dass Papa das genauso gut konnte wie ihr Bruder Para. Es machte sie glücklich.
Mamas Bauch wurde in dieser Zeit immer dicker. Théra fühlte das Leben in diesem Bauch. Sie nahm Kontakt auf zu diesem Wesen, das dort wohnte und sie merkte, wie dieses Wesen, das einmal ihre Schwester werden sollte, manchmal die kleinen Händchen von innen fest gegen die Bauchdecke drückte, um Théras Hände zu fühlen.
Längst bevor ihre Schwester geboren war, bestand eine Art der Kommunikation zwischen den beiden Schwestern. Sie waren miteinander verbunden durch ein Band aus Energie.
Als Théras Schwester im Sommer geboren wurde, staunte Théra, wie klein dieses Wesen war. Es konnte nicht mit Worten sprechen wie sie, aber sie fühlte, wie sich ihre kleine Schwester mit ihr durch Energieströme verständigte.
Die kleine Schwester wurde Clara genannt.
Théra sah zu, wie Clara an der Brust von Mama trank. Jetzt wurde ihr bewusst, wozu diese Brust gut war. Sie durfte manchmal daran nippen. Es schmeckte süss, und sie begriff, dass auch sie, Théra, lange von dieser Brust genährt worden war. Jetzt war sie schon groß und jetzt lernte sie von Papa und Para ganz andere Dinge.
11.
Im Sommer kamen viele Indios in die neu gebaute Siedlung. Männer, Frauen und Kinder.
Immer wieder durfte Théra mit Papa, mit Para oder mit einem ihrer Freunde aus dem Hotel dorthin gehen. Sie lernte jetzt viele neue Kinder kennen. Kleine und große.
Dann gab es ein einschneidendes Erlebnis. Eines der Kinder war krank geworden. Papa hatte Para hingeschickt, und Para hatte Théra mitgenommen.
Das Mädchen lag mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt, der manchmal kam, um nach dem Kind zu sehen, wusste keinen Rat mehr.
Para hatte sich zu dem Kind gelegt und bat auch Théra, sich dazuzulegen. Was dann kam, war wie ein Traum. Para entführte sie in eine neue Welt. Es war, als wenn Théra sich in ihre Atome auflöste. Sie spürte, wie sie zusammen mit Para in den Körper dieses kranken Kindes kroch. Sie flogen durch die Blutbahnen. Sie besuchten das Herz, die Leber und den Darm dieses Kindes. Sie besuchten die Nervenzellen und das Gehirn. Para nahm sie an der Hand und begann mit Théra zusammen kranke Zellen aufzuspüren. Para zeigte ihr, was gesunde und kranke Zellen sind. Er kroch in die Zellen des Mädchens, er rief gesunde Zellen zu Hilfe, und bildete Gürtel aus Abwehrzellen um die kranken Zellen, bis sie abstarben. Es gab viele davon.
Théra hatte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Para war stets bei ihr, und er führte sie durch den Körper des Mädchens. Später sollte sie erfahren, dass sie drei Tage und drei Nächte neben dem kranken Mädchen gelegen hatten. Ein Netz aus Blitzen hatte sie umgeben. Die Mutter und der Vater des Mädchens hatten still im Raum gesessen und gewartet. Sie hielten sich gegenseitig fest. Sie hatten geweint und gebetet. Manchmal waren sie vor Erschöpfung eingeschlafen.
Dann waren Para und Théra aus den Blutbahnen, den Nervenzellen und dem Körper des Mädchens wieder ausgezogen. Sie wachte auf, sie sah, dass Para nach Wasser verlangte, nach rohem Fisch und nach Früchten. Er hatte dem Mädchen zu trinken gegeben, und er hatte darum gebeten, dem Mädchen nun alle zwei Stunden etwas Wasser, Obst und Fisch zu geben. Sie müsse jetzt viel schlafen. Die Familie dürfe auch nicht darüber reden, was in den letzten Tagen geschehen sei.
Dann hatte Para nach Dennis gerufen. Er wankte mit Théra zurück in ihr Holzhaus. Er war zu schwach, um gerade zu laufen oder gar zu springen. Dort legte er sich mit Théra ins Bett, und schlief mit Théra drei Tage durch. Théra fühlte sich regelrecht ausgelaugt. Manchmal wurde sie ein wenig wach, mehr wie ein Dämmerzustand, Papa war immer da. Er versorgte sie mit Wasser und mit Obst und rohem Fisch. Das hatte sie vorher noch nie gegessen. Es war schwer zu kauen und es schmeckte eigenartig. Dann war sie jedes Mal wieder eingeschlafen. Sie war völlig kraftlos.
Nach drei Tagen wachte sie auf. Para nahm sie mit zum Fluss, und badete mit ihr in diesem kalten und klaren Wasser. Théra spürte, wie das Wasser ihre Müdigkeit wegwusch. Es war wie eine Reinigung an Körper und Geist. Dann waren sie zurückgegangen, hatten noch zwei Tage geschlafen und standen dann auf. Théra fühlte sich wieder fit und voller Kraft.
Diesmal gingen Papa, Para und Théra gemeinsam zu dem kleinen Indiomädchen. Ein Wunder war geschehen. Sie hüpfte und lachte wieder. Es war, als wäre sie nie krank gewesen. Die Eltern