Biodiversität. Bruno Baur
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Die Genfrequenzen einer Population können sich durch natürliche Selektion, Ein- und Auswanderung, Genfluss und Zufallsprozesse wie genetische Drift verändern (siehe Evolutionsprozesse). Die in Tabelle 1 aufgeführten Werte zeigen, dass die Kreuzotterpopulation in den Alpen eine größere genetische Vielfalt aufweist als die beiden Populationen im Juragebirge und in den Voralpen. Die genetischen Unterschiede zwischen Populationen sind von großer Bedeutung für die genetische Vielfalt der Art (Genpool der Art). Genetisch vielfältige Populationen haben eine größere Wahrscheinlichkeit, sich an veränderte Umweltbedingungen|13◄ ►14| anpassen zu können als «genetisch verarmte» Populationen. Bei extremen Umweltveränderungen besitzt möglicherweise eine Population die geeigneten Gene um dem neuen Selektionsdruck widerstehen zu können und somit das Überleben der Art zu ermöglichen. So kann beispielsweise die Sortenvielfalt von Nutzpflanzen – eine Form der genetischen Vielfalt – zur Überlebensfrage werden: In den 1970er-Jahren vernichtete ein aggressives Virus die Reisernten von Indien bis Indonesien. Als Folge wurden 6273 Reissorten auf ihre Resistenz gegen das Virus getestet. Nur eine einzige Sorte besaß Gene, die die Pflanze gegen die Viruskrankheit immun machten. Diese Sorte konnte dann weiter gezüchtet werden. Im Allgemeinen kann genetische Vielfalt auch als «Lebensversicherung» der Population oder Art betrachtet werden.
Fortpflanzungssystem und genetische Vielfalt
Natürliche Populationen haben eine räumliche wie auch eine zeitliche Struktur. Beide beeinflussen die räumliche Struktur der genetischen Vielfalt der Art, zusammen mit weiteren Faktoren wie das Fortpflanzungssystem, die Ausbreitungsdistanzen der Männchen und Weibchen und die Fähigkeit der Weibchen, die Spermien, welche sie von verschiedenen Männchen erhalten haben, zu speichern. Das Fortpflanzungssystem spielt dabei die wichtigste Rolle. In der Regel ist die genetische Vielfalt am geringsten bei Arten mit klonaler Fortpflanzung. Populationen von Pflanzen, die sich ausschließlich vegetativ fortpflanzen, können aber aus verschiedenen Klonen bestehen. Bei Arten mit häufiger oder obligater Selbstbefruchtung (z.B. gewisse zwittrige Landschnecken) ist die genetische Vielfalt eher gering. Bei Säugetieren spielt das in den Populationen vorherrschende Paarungssystem eine wichtige Rolle für die genetische Vielfalt. Sie ist am größten bei Arten mit herumstreifenden Männchen, gefolgt von Arten mit Revierverhalten. Bei Populationen mit Harems-Bildung (z.B. See-Elefanten) und Balzplatz-Fortpflanzungsverhalten ist die genetische Vielfalt geringer, weil die Gene von einigen wenigen Männchen überdurchschnittlich häufig im Genpool vertreten sind.
Evolutionsprozesse
Verschiedene Prozesse tragen zu Veränderungen der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen Individuen sowie zwischen Populationen |14◄ ►15| bei. Mutationen bedeuten eine Veränderung im genetischen Material. Durch Mutationen können neue Varianten (Allele) der Gene entstehen, die veränderte oder neue Merkmale verursachen. Mutationen können spontan auftreten oder durch äußere Einflüsse wie radioaktive Strahlung oder erbgutverändernde Chemikalien (Mutagene) verursacht werden. In der Evolution sind Keimbahnmutationen von Bedeutung. Dies sind Mutationen, die an die Nachkommen über die Keimbahn weitergegeben werden. Sie betreffen Eizellen oder Spermien sowie deren Vorläufer. Mutationen können unter anderem durch Fehler bei der Replikation der DNA und bei Reparaturvorgängen sowie durch falsche Zusammenlagerung von DNA-Sequenzen bei der Meiose entstehen. Bei Punktmutationen wird nur ein Nukleotid im genetischen Code verändert (z.B. eine Base ausgetauscht). Mutationen können negative Auswirkungen für den Organismus haben, oder ohne Fitnesskonsequenzen für das betroffene Individuum sein. Nur in sehr seltenen Fällen hat eine Mutation positive Folgen für den Organismus.
Die von Charles Darwin (1809 – 1882) entwickelte Evolutionstheorie stellt natürliche Selektion als Mechanismus in den Vordergrund. Survival of the fittest bedeutet nach Darwin, dass diejenigen Individuen überleben und sich vermehren können, welche an die vorherrschenden Bedingungen (extreme Temperaturverhältnisse, Prädatorendruck, verändertes Nahrungsangebot, usw.) am besten angepasst sind. Individuen mit bei den vorherrschenden Bedingungen vorteilhaften Merkmalen (z.B. Farbe, Größe oder Verhalten) können mehr Nachkommen produzieren als Individuen ohne diese Merkmale. Die vorteilhaften Merkmale kommen deshalb in der nächsten Generation häufiger vor, während die nachteiligen seltener werden, vorausgesetzt, dass diese Merkmale vererbbar sind. Über viele Generationen betrachtet, können durch diesen Prozess unterschiedliche Anpassungen an verschiedene Umweltbedingungen entstehen. Wenn sich zwei oder mehrere Populationen von Lebewesen immer stärker in ihren Merkmalen unterscheiden, d.h. immer größere genetische Differenzen auftreten, kann sich die Art in neue Arten aufspalten (siehe: Wie entstehen neue Arten?). Eine wichtige Voraussetzung für Anpassungen durch natürliche Selektion sowie für Artbildung ist das Vorhandensein von genetischen Unterschieden zwischen Individuen (genetische Vielfalt).
Der englische Biomathematiker Ronald Fisher (1890 – 1962) kombinierte das Evolutionsmodell von Darwin und nachfolgende Beiträge von verschiedenen Genetikern zur einheitlichen Synthetischen Theorie der Evolution (oder Neodarwinismus). Er entwickelte damit die Grundlage|15◄ ►16| für quantitative Untersuchungen, welche auf Allelfrequenzen basieren (Fisher 1930). Evolution findet statt, wenn sich die Häufigkeiten von Allelen in einer Population verändern. Durch Mutationen können neue genetische Varianten entstehen. Durch Rekombination werden Allele in neuen Kombinationen an die Nachkommen weitergegeben.
Das zufällige Weitergeben von Allelen an die nächste Generation wird genetische Drift genannt. Dabei spielt die Populationsgröße eine wichtige Rolle. Das Allel-Set, das eine Generation an die Nachfolgegeneration weitergibt, ist statistisch gesehen immer eine Zufallsstichprobe. In großen Populationen werden auch Allele, welche in geringen Häufigkeiten vorkommen, an die nächste Generation weitergegeben, während bei kleinen Populationen seltene Allele verloren gehen. Durch genetische Drift kann sich die Nachfolgegeneration in den Allelhäufigkeiten deutlich von der Vorgängerpopulation unterscheiden.
Beim Gründereffekt besiedeln wenige Individuen einen neuen Lebensraum, etwa eine Insel. Diese Tiere repräsentieren nicht die ganze Bandbreite der in der Ausgangspopulation vorhandenen Allele. Wegen der geringen Vielfalt an mitgebrachten Allelen kann die neu entstandene Inselpopulation sich unter den veränderten Bedingungen anders entwickeln als die Ausgangspopulation. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Insel eine neue Art entstehen kann (siehe: Wie entstehen neue Arten?).
Was ist eine Art?
Diese auf den ersten Blick triviale Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. In verschiedenen Artkonzepten wird mithilfe eindeutiger Kriterien versucht, die Vielfalt der Lebensformen auf unserem Planeten in diskrete Einheiten aufzuteilen. Da Evolution aber ein ständig fortschreitender Prozess ist, gibt es viele unterschiedlich stark ausgeprägte Übergangsformen zwischen Arten, die kaum durch eine gängige Definition taxonomisch zweifelsfrei abgegrenzt werden können. Die beiden am häufigsten verwendeten Definitionen für eine Art lauten:
• Eine Art ist eine Gruppe von Individuen, die sich in morphologischer, physiologischer oder biochemischer Hinsicht von anderen Gruppen unterscheidet (morphologische Definition einer Art, Morphospezies).
• Eine Art ist eine Gruppe tatsächlich und potenziell kreuzbarer Individuen, die sich mit Individuen anderer Gruppen unter natürlichen |16◄ ►17| Bedingungen nicht fortpflanzen (biologische Definition der Art, Biospezies).
Das Morphospezies-Konzept ist nützlich zur Unterscheidung der großen Zahl von lebenden, aber auch ausgestorbenen und nur fossil überlieferten Pflanzen- und Tierarten. Die folgenden Fakten zeigen aber die Grenzen dieses Konzeptes auf:
• Innerhalb einer Art können die Merkmale kontinuierlich