Einführung in das Lebensflussmodell. Keweloh Astrid
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Auch der Psychiater und Psychotherapeut Milton H. Erickson nutzte in seinen Hypnosen unter anderem die Metapher einer Lebenslandschaft, die in die Zukunft führt und dem Klienten die Möglichkeit gibt, das eigene Leben aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Erickson führt die Wege des Lebens und der Lösungen bis in die ferne Zukunft hinein, und Peter Nemetschek, der bei ihm lernte, nutzte diese Metaphern und visualisierte sie – entsprechend seiner Herkunft als bildender Künstler – kreativ und fantasievoll mithilfe von Seilen und Symbolen anfänglich als Lebenslinie und später als Lebensfluss. Ganz konkret werden hierbei bunte Seile von der Vergangenheit ausgehend bis in die Zukunft hinein auf den Boden gelegt. Diese visualisierten Lebenslinien, die den Ablauf des Lebens oder einzelne Lebensphasen symbolisieren, lassen ein lebendiges und farbenfrohes Bild entstehen.
Den Lebensfluss kann man dabei als einzelnes Seil legen, wenn es um eine persönliche Thematik geht, in der andere Personen für die Lösung nicht mithilfe eines Seils visualisiert werden müssen (s. Abb. 2).
Ebenso ist es möglich, Seile, die das Bezugssystem symbolisieren, zu dem Seil des Klienten zu legen, obwohl die anderen Personen in der Sitzung nicht anwesend sind (s. Abb. 3).
In familientherapeutischen Sitzungen können für alle anwesenden oder auch wichtigen abwesenden Personen stellvertretend Seile gelegt werden: Es entsteht eine Lebensflusslandschaft mit je einem Seil für jede bedeutsame Person, sichtbar für alle anwesenden Familienmitglieder bei einer Familienberatung, sodass nun jeder für sich – und gleichzeitig gemeinsam – seine seelischen Prozesse durchlaufen kann. Die Familienmitglieder haben ein Ziel, eine Richtung vor Augen und können diese regelrecht ablaufen. Dadurch macht auch der Körper eine sinnliche Erfahrung. Ebenso kann man in der Paartherapie die Beziehung des Paares mit den Seilen visualisieren und gemeinsame Lösungen entwickeln.
Schon die alten Germanen stellten sich vor, dass die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die Lebensfäden der Menschen zu Füßen des Weltenbaumes spinnen. Ebenso sind die Begriffe Lebenslinie oder Lebensstrom gängige und hilfreiche Metaphern, die dem Klienten helfen, in die spontan entstehende Alltagstrance während der Lebensflussarbeit zu gleiten. Durch die Visualisierung des Lebens oder einer Lebensphase kann man Klienten systemisch begleiten und in der Entwicklung unterstützen. Die Prozesse der persönlichen Entwicklung, der Familienebene oder auch der Therapie werden schrittweise visualisiert – so können aus den Lebensflüssen regelrechte Ressourcenlandschaften, Familienlandschaften oder auch Bindungslandschaften entstehen.
Abb. 2: Der Lebensfluss eines Klienten, von der Vergangenheit ausgehend in Richtung Zukunft 2
Abb. 3: Der Lebensfluss einer Familie mit einem Jugendlichen (sein Seil verläuft in der Mitte zwischen den Seilen der Eltern), von der Vergangenheit aus betrachtet in Richtung Zukunft
Krisen lassen sich im Kontext des Lebens mittels Regression und Progression aus anderen Perspektiven wahrnehmen, wodurch sich neue Lösungswege und Möglichkeiten im wahren Sinne eines handhabbaren Ziels ergeben. Ein Ziel, das im Bereich des Möglichen liegt!
In der spontan auftauchenden Alltagstrance kann der Klient Reisen in die Zukunft unternehmen, um Visionen und Hoffnungen zu entwickeln, aus der Vergangenheit Ressourcen ins Jetzt holen oder herausfordernde Situationen in der Gegenwart gestalten.
So ist der Klient in der Lebensflussarbeit ein Zeitreisender – gleichzeitig an diesem und an anderen Orten, in der jetzigen Zeit und in anderen Zeiten –, wenn er in Trance die Positionen am Lebensfluss wechselt oder seine eigenen Erfahrungen an ihm vorbeiziehen.
Wenn Menschen zur Beratung kommen, haben sie häufig einen Tunnelblick – fest fixiert auf die Krise und nicht auf die potenziellen Lösungen, die unentdeckt im Inneren zur Verfügung stehen.
Bei der Lebensflussarbeit entstehen in der Regel automatisch Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken und Bilder für Lösungen, die körperlich und sinnlich erfahrbar sind. Zudem entwickelt sich häufig ein Perspektivwechsel in Richtung Lösung, sodass sich meist recht bald ein hilfreicher Stimmungsumschwung herbeiführen lässt. Mit rein verbalen Methoden fällt es oft nicht so leicht, solch einen Stimmungsumschwung in Richtung konstruktive Lösung und Perspektivwechsel schnell herbeizuführen. Das Lebensflussmodell führt von Beginn an in Richtung Lösung. Es werden alle Sinne genutzt, und der Lösungsprozess wird ganzheitlich begleitet. Ressourcen, die in Vergessenheit geraten sind, werden wieder wahrgenommen und genutzt: gewinnbringende Erfahrungen aus der Kindheit, aus der Jugend oder aus früheren Zeiten. Die Klienten können ihr »inneres glückliches Kind« wiederentdecken, zu dem ihnen häufig der Zugang verloren gegangen ist. Diese neue Begegnung kann eine hilfreiche Unterstützung bei Problemlösungen darstellen.
Die konstruktiven Kräfte des Klienten kommen wieder ins Fließen, und vorhandene Problemtrancen oder Blockaden werden durch Lösungstrancen ersetzt. Ressourcen können aus der Vergangenheit in die Zukunft transportiert und dort verankert werden, sodass neue Hoffnung, Sicherheit und Stabilität, ein gestärktes Selbstwertgefühl, neue Wege und Visionen entstehen, um kraftvoller in die eigene Zukunft gehen zu können.
Der Schwerpunkt dieser Trancemethode liegt auf dem Wahrnehmen, Fühlen und Spüren – um in der Trance Bilder und Visionen zu entwickeln, die sich mit genügend Raum und Zeit tief im Unbewussten des Klienten verwurzeln können. Die Lebensflussarbeit berührt die Herzen der Klienten, und die Basis ist das aktive Handeln. Es ist wichtig, die entstehende Energie nicht zu zerreden, sondern achtsam und wertschätzend die Prozesse des Klienten zu begleiten. Die neu erlebten Erfahrungen werden sowohl in Bildern als auch emotional und körperlich erfahrbar, entsprechend gespeichert und sind in Alltagssituationen abrufbar.
1Foto von Lukas Wohlschläger; © Astrid Keweloh.
2Fotografien der Lebensflüsse von Eileen Löffler, Augsburg; © Astrid Keweloh.
2Die Entwicklung des Lebensflussmodells
2.1Der Begründer des Lebensflussmodells
Der Münchner Familientherapeut Peter Nemetschek entwickelte das Lebensflussmodell in den 1980er- und 90er-Jahren als Element und Grundlage seiner Ausbildungen in systemischer Familientherapie. Später setzte er die Arbeit mit Seilen und Symbolen auch vielfältig in Coaching-Kontexten ein und bezeichnete diese Visualisierungen als »professionelle Time-Line«. Seiner Aussage nach entwickelte er diese Modelle vollständig unabhängig von der Timeline-Arbeit, die in den 1980er-Jahren parallel im NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) entstanden ist. Hier wird die Visualisierung eines jeglichen persönlichen oder beruflichen Bereichs Timeline-Arbeit genannt. In der Arbeit von Peter Nemetschek stellt die sogenannte »Time-Line« als Ergänzung zum Lebensfluss nur die berufliche Lebensgeschichte dar.
Peter Nemetschek wurde 1937 in Österreich geboren. Er musste als achtjähriges Kind mit seiner Mutter aufgrund der Auswirkungen des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges unter sehr schwierigen Bedingungen nach Deutschland fliehen. Überlebt hatte er all das mithilfe seiner Fantasie: Er imaginierte eine Traumwelt in der Zukunft: »Wenn ich mal groß bin!« – »… dann bin ich