Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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dies in einem Kontext, der zumindest in zweierlei Hinsicht von einer paradoxen Steuerungsskepsis geprägt ist. Zum einen hat sich eine systemische Steuerungstheorie damit auseinanderzusetzen, dass die neuere Systemtheorie Steuerung überhaupt nur in der Form der Selbststeuerung begreiflich machen kann. Sie betont mit triftigen Gründen die Eigenlogik, Autonomie und operative Geschlossenheit komplexer Systeme und schließt daraus, dass eine direkte externe Beeinflussung oder Steuerung keinen Erfolg haben könne.

      Zum anderen sieht sich jede Steuerungstheorie heute mit einem Trümmerhaufen gescheiterter praktischer Steuerungsvorhaben und Steuerungshoffnungen konfrontiert. Nicht nur die Praxis sozialistischer Gesellschaftssteuerung ist tragisch und mit unvorstellbaren Kosten gescheitert; auch die Praxis westlich-demokratischer Steuerung hat in unzähligen Bereichen tiefe Spuren der Enttäuschung, Konfusion und Resignation hinterlassen. Misslungene Steuerungsstrategien werden unter den Stichworten »Staatsversagen« und »Marktversagen« abgeheftet, wenn nicht gleich unter dem Titel einer »Logik des Misslingens« (Dörner 1989), von »Blundering into disaster« (McNamara 1987) oder von »Adventures in chaos« (Macdonald 1992). Außer den widersprüchlichen Rufen nach »Deregulierung« einerseits und »Gemeinwohlorientierung« andererseits sind bis heute kaum brauchbare Alternativen zu erkennen.

      Diese missliche Lage rechtfertigt wohl den Versuch eines neuen Anfangs. Neu an diesem Versuch ist in erster Linie die Absicht, die hochentwickelten Beobachtungs- und Konstruktionsinstrumente der neueren Systemtheorie zu nutzen, und sie in ein resonantes Verhältnis mit praktisch relevanten Steuerungsproblemen zu bringen.

      In theoretischer Sicht ist das Steuerungsproblem zentral, weil es die Frage nach der Möglichkeit und der Qualität der wechselseitigen Beeinflussung komplexer Systeme stellt. Bei aller Betonung der Eigenlogik und der operativen Geschlossenheit nicht trivialer Systeme ist die moderne Systemtheorie eine System-Umwelt-Theorie. Je deutlicher sie die Eigensinnigkeit und Undurchdringlichkeit[8] selbstreferenzieller Systeme herausarbeitet, »desto dringender stellt sich die Frage, wie denn unter dieser Bedingung die Umweltbeziehungen des Systems gestaltet sind« (Luhmann 1993, S. 440). Auf dem Feld der Steuerungstheorie werden in den kommenden Jahren entscheidende Auseinandersetzungen stattfinden. Mit dem Zusammenbruch des praktizierten Sozialismus haben auch theoretische Konzeptionen der zentralisierten Planung, der hierarchischen Fremdsteuerung, der direkten autoritären Beeinflussung ihre verbliebene Basis an Glaubwürdigkeit und Reputation verloren. Der u. a. von der Systemtheorie (Foerster 1985b; Willke 1979; Willke 1983, Kap. 4) immer wieder monierte Widersinn einer Trivialisierung komplexer Sozialsysteme hat sich auch durch eine immer repressivere Praxis nicht halten lassen. Dieses praktische Scheitern einer Theorie (der Gesellschaftssteuerung) wird nicht ohne Auswirkungen auf »westliche« Vorstellungen der Gesellschaftssteuerung durch Politik bleiben. Fantasien der Machbarkeit, ja Erzwingbarkeit politischer Reformen, die vor allem das sozialdemokratische und das verbliebene sozialistische Denken noch prägen, geraten weiter in die Defensive. Die von oben verordnete Beglückung der Menschen durch Sozialstaat und Wohlfahrtsgesellschaft wird noch fragwürdiger werden. All dies kann in der gegenwärtigen historischen Epoche wenig überraschen.

      Überraschend dagegen ist die simultane Erfahrung der westlichen Demokratien, dass auch das offizielle Gegenprogramm des »Durchwurstelns«, des »Laisser-faire«, der Deregulierung und des Pluralismus an deutliche Grenzen des Ertrages und der Erträglichkeit gestoßen ist. Selbst in den USA, dem Hort des scheinbar freien Spiels der Kräfte in Politik und Ökonomie, im Wissenschaftssystem wie im Gesundheitssystem, in den Massenmedien wie im Außenhandel (»free trade«), wird inzwischen bloßes Durchwursteln und bloße Evolution nach Marktgesetzen als suboptimal eingeschätzt – und in wichtigen Fällen sogar als selbstschädigend. Seitdem ist es schwieriger geworden, die Frage der Entwicklungsdynamik von Gesellschaften (und anderer großer Sozialsysteme) in endlosen Wiederholungen zwischen den Eckpunkten Staat und freier Markt, staatlicher Kontrolle und marktförmiger Freiheit, Planung und Evolution, hierarchischer Autorität und Selbstorganisation hin- und herzuschieben. Das Planungsmodell ist gründlich diskreditiert; aber auch das Marktmodell kommt in Verruf, seitdem insbesondere durch die globale Finanzkrise deutlicher beobachtbar wird, dass und wie Marktversagen und die marktproduzierten Fehlleistungen modernen Gesellschaften an die Substanz gehen.

      Eine Steuerungstheorie, die sich aus der doppelten Negation von Plan und Markt entfaltet, sieht sich konsequenterweise auch einer doppelten Frontstellung von Planungsverfechtern und Marktadepten gegenüber. Die verführerisch einfachen Antinomien (Gegensatzpaare oder Denkformen) von Plan und [9]Markt, Markt und Staat, Hierarchie und Freiheit, Hierarchie und Markt etc. wehren sich gegen das Eindringen eines störenden Dritten, das die übersichtlichen Grenzlinien durcheinanderbringt. Die resultierende Konfusion schlägt in der Regel auf das Dritte zurück und verhindert die Frage, ob es nicht eine alternative Form gäbe, welche die bisherigen Alternativen übergreift. Die zentrale theorie-strategische Herausforderung an die Steuerungstheorie ist es deshalb, in einem Feld zu operieren, das gar nicht an der Erprobung zusätzlicher Alternativen interessiert ist, sondern an der Perfektionierung der bereits etablierten Konzeptionen. Nach einer paradoxen Logik des »Mehr von demselben« gilt dies gerade auch dann, wenn diese Konzeptionen für alle erkennbar Misserfolge produzieren. Die intuitive Reaktion der betroffenen und interessierten Akteure ist nicht: »Lasst uns die Konzeptionen überprüfen und eventuell verwerfen«, sondern viel eher: »Lasst uns die Konzeptionen ausbauen, denn wir haben bereits so viel in sie investiert«.

      Jede Steuerungstheorie muss der Übermacht der etablierten Theorien zumindest so lange trotzen, bis sie begreiflich machen kann, weshalb Steuerung für den Fall nicht trivialer Systeme eine eigenständige Problem- und Fragestellung ist. Es kommt darauf an, plausibel zu machen, dass sich eine Steuerungstheorie sozialer Systeme weder in der Begrifflichkeit der Planungstheorien, noch in den Begriffen der Theorien naturwüchsiger Evolution fassen lässt, weil Steuerung weder auf externe Eingriffe noch auf interne Dynamiken alleine reduziert werden kann. Das theoretische Kernproblem jeder Steuerungstheorie ist deshalb die Fragen nach den möglichen Formen der geordneten Verschränkung von operativer Geschlossenheit und externer Anregung. Erst nach dieser Komplizierung besteht eine Chance, die vorherrschende Verengung des Denkens auf die Form Plan/Markt oder Hierarchie/Selbstorganisation aufzubrechen.

      In praktischer Sicht ist das Steuerungsproblem brisant, weil die Kunst der Systemsteuerung sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Zugleich wächst die Dringlichkeit praktischer Steuerungsprobleme. Ob Primärgruppe, Organisation oder Gesellschaft, ob Abteilung, gesellschaftliches Funktionssystem oder transnationaler Kontext – auf jeder nur denkbaren Ebene nehmen die Steuerungsprobleme zu, und die Steuerungskapazitäten können nicht Schritt halten. Regionale Krisen wie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, die »operation hope« in Somalia, die französische Intervention in Mali oder die Auseinandersetzungen zwischen der UN und Nordkorea zeigen auf internationaler Ebene, wie schwierig die Steuerung komplexer Verhältnisse selbst bei scheinbar eklatanter Überlegenheit der eingreifenden Akteure ist. Vergleichbares gilt auf nationaler Ebene für eine Unzahl gesellschaftlicher Problemlagen, vom Drogenproblem über die Technologiesteuerung bis zur[10] vielfältigen Selbstgefährdung durch Umweltzerstörung und durch einen Raubbau an natürlichen und menschlichen Ressourcen.

      Dass sich die Lage der Entwicklungsländer trotz vielfältiger eigener und fremder Programme in kaum einer Hinsicht verbessert und in vielen Hinsichten verschlechtert hat, halten die meisten Beobachter bereits für normal (Moyo 2010). Selbst die am meisten entwickelten Ökonomien haben trotz jahrelanger Anstrengungen keine Mittel gegen eine degradierende Massenarbeitslosigkeit finden können. Wie sollen Steuerungsfragen dieser Größenordnung gelöst werden, so könnte man allerdings fragen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, die scheinbar kleinen Steuerungsprobleme der familiären Stabilität, der anspruchsvollen Erziehung von Kindern, der Versorgung mit Kindergartenplätzen, der Integrität kommunaler Lebenswelten, einer zukunftsorientierten Berufsausbildung etc. auch nur einigermaßen befriedigend zu behandeln.

      Vielleicht am erstaunlichsten an der Situation der modernen Gesellschaften ist, dass ungeheuer viele und vielfältige Programme, Initiativen, Projekte, Modellversuche und Veränderungsvorhaben in Gang gesetzt werden, ohne dass dies eine tiefsitzende

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