Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke
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Vielleicht war es aber immer schon die Schwierigkeit einer Steuerungstheorie, dass der direkte und umstandslos erscheinende Weg des hierarchischen Zwangs einerseits, des kurzsichtigen Durchwursteln andererseits natürlicher und machbarer erscheinen als der komplizierte Weg einer resonanten Verschränkung (d. h.: einer wechselseitig aufeinander Rücksicht nehmenden Verknüpfung) von Eigenlogik und extern vorgegebenen Möglichkeiten und Restriktionen. Weil aber in komplexen Problemkonstellationen weder Zwang noch Durchwursteln angemessen sind, führen sie nicht selten zu tragischen Lösungen, die das Problem nur verschlimmern. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die antike Tragödie Antigone des Sophokles. Im Kampf um Theben töten sich die Brüder Eteokles und Polyneikes, beides Söhne des Ödipus, gegenseitig. Eteokles, der die Stadt verteidigte, wird in Ehren begraben. Aber der Angreifer Polyneikes darf auf Befehl des neuen Herrschers von Theben, Kreon, nicht begraben werden. Zwischen den beiden Schwestern Antigone und Ismene kommt es zur Auseinandersetzung, weil Antigone entgegen dem Verbot auch Polyneikes, ihren Bruder, begraben will. Ismene beugt sich dem Zwang des Kreon und versucht sich mit Hinweis auf ihre Rolle als Frau durchzuwursteln: »Wir müssen einsehn, dass wir Frauen sind, mit Männern uns zu messen nicht bestimmt. … Ich füge mich der Obrigkeit: Maßlos zu handeln hat ja keinen Sinn.«
Treffend bezeichnet Antigone dieses Durchlavieren als »Klugheit« und »Vorwand«. Aber sie selbst hat dem Zwang des Kreon nichts anderes entgegenzusetzen als einen höheren Zwang, denjenigen der Götter und des Gebots an die Schwester, den toten Bruder zu bestatten. Sie versucht nicht, auf Kreon Einfluss zu nehmen, um ihn zur Rücknahme seines Verbots zu bringen. Im Gegenteil: Offen und trotzig gesteht sie ihre Tat und verweist auf ein höheres Gesetz: « So groß schien Dein Befehl mir nicht, der sterbliche Dass er die ungeschriebnen Gottgebote, Die wandellosen, konnte übertreffen.« Hat Kreon angesichts dieser erzwungenen direkten Konfrontation eine andere Möglichkeit, als auf seinem Gesetz zu bestehen und Antigone zum Tode zu verurteilen? Wenn sie ungestraft bliebe, dann wäre seine Autorität als König untergraben. Schlimmer noch: »Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!« Heutige Feministinnen werden dies zu interpretieren wissen.
Antigone kommt es nicht darauf an, ein Problem in einer komplexen Konstellation zu lösen. Sie sieht von den meisten Momenten der Situation[15] ab – vom Fluch des Ödipus, vom Kampf um Theben, von der Position des Königs, von ihrer Liebe zu Haimon (dem Sohn Kreons), von den Folgen ihres Handelns für ihre Schwester – und verengt ihren Blick auf die Alternative gehorchen oder nicht gehorchen, begraben oder nicht begraben.
Die vielleicht spannendste Rolle in der ganzen Tragödie ist Haimon zugeschrieben. Er hat einen einzigen großen Auftritt, einen langen Dialog mit seinem Vater, in welchem er grandios beginnt, als sei er steuerungstheoretisch geschult, sich dann aber von der Unnachgiebigkeit seines Vaters zunehmend irritieren lässt, schließlich bei Vorwürfen und Drohungen und Spott Zuflucht suchen muss und damit den tragischen Verlauf der Handlung nur noch beschleunigt. Gleich zu Beginn wird er von seinem Vater mit der unlösbaren Alternative konfrontiert: »Kommst du nun, Vor mir um deine Braut zu toben oder Liebst du den Vater stets, was er auch tut?« Aber anstatt sich auf diese tödliche Alternative einzulassen, spricht er wie ein geschickter Berater. Er versichert dem Vater, dass er seiner Weisung folge – solange sie auf den rechten Weg führe. Er lässt offen, was der wirklich rechte Weg wäre und bringt nach einer längeren Tirade Kreons über Gehorsam und Renitenz eine weitere Perspektive ins Spiel, nämlich seine Rolle als einziger, der es wagt, dem König ungeschminkt Beobachtungen über die Stimmung des Volkes mitzuteilen. Behutsam arbeitet er darauf hin, seinem Vater begreiflich zu machen, dass eine Aufhebung des Verbots nicht Schwäche wäre, sondern Weisheit, nicht Unordnung und Aufruhr nach sich zöge, sondern Bewunderung für Großmut:
»Auch für den Klugen ist doch keine Schande,
Statt sich zu übernehmen viel zu lernen.
Du siehst am winterlich geschwollnen Strom
Den Baum, der nachgibt, seine Zweige retten,
Was widersteht, reißt’s mit den Wurzeln fort.
Und wenn der Steuermann das Segeltau
Nur immer strafft und gar nicht lockern mag,
Der kentert bald und fährt kieloben weiter.
Drum beuge dich und wandle deinen Sinn!
Hab ich, der Jüngre, auch ein Wort, ich meine,
Weitaus der höchste Rang gebührt dem Mann,
Dem von Natur der Weisheit Fülle ward.
Doch in der Regel fällt es anders aus,
Dann ist von Klugen lernen auch ein Lob.«
Haimon benutzt sogar zwei explizite Bilder kluger Steuerung – er spricht vom Baum, der sich dem Strom nicht entgegenstemmt und vom Steuermann, der auch nachlassen und nachgeben kann, um den Wind besser zu[16] nutzen. Aber es ist alles vergebens. Schnell spielt sich der zwischen Vater und Sohn übliche Machtkampf ein, bei dem beide nur verlieren können.
Vielleicht wollte Sophokles in Wirklichkeit doch eine Einführung in die Steuerungstheorie schreiben. Denn er begnügt sich nicht mit diesem gescheiterten Versuch. Vielmehr inszeniert er einen in seiner Komplexität eindrucksvollen Steuerungsprozess, der zwar letztlich auch scheitert, weil die Akteure die Zeitdynamik des Geschehens nicht mehr im Griff haben, der aber exemplarisch aufweist, wie Steuerung funktionieren könnte. Schlüsselfigur ist der blinde (!) Seher Teiresias. Ihm gelingt es, Kreon den umfassenderen Kontext der Entscheidungssituation vor Augen zu führen – die Folgen seines Beharrens auf Antigones Tod für ihn selbst, für seine Familie, für die Stadt insgesamt. Er entzieht Kreon die Sicherheit einfacher Alternativen und deutet an, dass Kreons Unerbittlichkeit die Rache der Erinnyen gegen die Stadt heraufbeschwört. Nun endlich ist Kreon erschüttert, aber erstaunlicherweise muss er dies nicht als Niederlage Teiresias gegenüber eingestehen, sondern sich selbst in einem inneren Dialog mit dem Chor. So ist sein Nachgeben nicht mehr eine Frage von Behauptung oder Aufgeben, sondern von Einsicht in eine neue Notwendigkeit.
Das Problem der Steuerung, so lässt sich aus diesem Beispiel ersehen, ist die Auflösung einer paradoxen Verstrickung des zu steuernden Systems. Verstrickt ist es in irgendeine Art von Widerspruch, den es nicht auflösen kann, weil dies eine Reformulierung der Identität des Systems voraussetzen würde. Diese kann das System gerade deshalb nicht leisten, weil es sich in eine Verstrickung hineinmanövriert hat, die es selbst als Bedrohung seiner Identität sieht. Eine Auflösung lässt sich auf dem scheinbar naheliegenden Weg von externem Zwang,