Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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Verhältnisse, sie sperren sich – ohne dass sich genauer sagen ließe, was diese Verhältnisse so undurchschaubar und unveränderbar macht.

      All dies nährt die Vermutung, dass nicht einzelne Steuerungsfehler Erfolge im Sinne gelingender Systemsteuerung verhindern. Vielmehr scheint unser Verständnis des Problems der Steuerung komplexer Sozialsysteme insgesamt mangelhaft zu sein. Wäre diese Vermutung richtig, dann wüssten wir, warum es so wenig nützt, an den praktizierten Steuerungskonzeptionen herumzubasteln und sie im einen oder anderen Detail zu überarbeiten. Wenn Ökonomen, Politiker, Unternehmer oder Gewerkschafter jeden Monat neue Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verkünden, sich aber über Jahre hinweg die Lage nur verschlechtert, dann ist zu befürchten, dass das ganze vorherrschende Modell der Steuerung des Arbeitsmarktes nichts taugt. Wenn über Jahrzehnte hinweg die staatliche Entwicklungshilfepolitik hauptsächlich viele kleine und einige große Katastrophen produziert, dann sollte sich irgendwann die Frage stellen, ob die vorherrschende Konzeption von Entwicklungshilfe überhaupt irgendetwas mit der Realität komplexer Sozialsysteme im Kontext fremder Kulturen zu tun hat.

      Wie für die Theorie, so könnte es auch für die Praxis der Steuerung angesichts dieser Penetranz von Misserfolg naheliegen, sich ganz aus dem Geschäft der Steuerung zurückzuziehen und auf Nichtsteuerung zu setzen. Demgegenüber möchte ich in diesem Buch das Argument entwickeln, dass Steuerung[11] unabdingbar ist, weil gerade komplexe Sozialsysteme weder ihrer Eigendynamik überlassen (siehe dazu Mayntz und Nedelmann 1987), noch von außen kontrolliert werden können. Ihre Eigendynamik treibt sie zwar zur maximalen Nutzung ihrer intern angelegten Möglichkeiten, aber ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen (»negative Externalitäten«) für ihre Umwelt. Externe Kontrolle dagegen schnürt den Möglichkeitsraum eines Systems auf denjenigen einer Trivialmaschine ein und beraubt es so seiner kreativen und innovativen Züge. Die komplementären Mängel von selbstzerstörerischer Eigendynamik und unmöglicher Kontrolle bezeichnen ziemlich genau das Dilemma, das mit Hilfe eines brauchbaren Konzepts von Steuerung zu lösen wäre.

      Nehmen wir als ein erstes Beispiel das Auto (siehe dazu die Parallele im Einführungskapitel meiner Systemtheorie II). Seit 100 Jahren folgt die Entwicklung des automobilen Verkehrssystems hauptsächlich seiner Eigendynamik. Die grundlegende Technologie wird kontinuierlich variiert, aber nicht substanziell verändert. So gibt es eine schier unendliche Fülle von Modellen, Varianten, Veränderungen, mehr oder weniger neuen »features« und Spielereien; aber immer noch existieren weder ein brauchbares Elektroauto noch andere überzeugende Alternativen zum Auto. Die industrielle Produktionsform des Autos hat sich kontinuierlich fortentwickelt. Seit langem ist es ein millionenfach verkaufter Massenkonsumartikel. Das Auto ist billiger, standardisierter, in seinen Komponenten verlässlicher und sicherer geworden; aber nirgendwo in der Autoindustrie scheint es einen Bedarf an grundsätzlicher Reflexion der Folgekosten des Autos zu geben. Die begleitende Infrastruktur – Straßennetz, Verkehrsschilder, Kraftfahrzeugämter etc. – hat sich ebenfalls evolutionär fortentwickelt, ohne Neuerungen oder Brüche.

      Insgesamt aber erzeugen diese (und weitere) einzelne Strömungen der eigendynamischen Entwicklung des automobilen Verkehrssystems einen Mahlstrom an negativen Externalitäten, vom Verkehrsinfarkt der Städte über die Vergiftung von Boden, Luft und Wasser bis zur Zerstörung der Ozonschicht und einer möglichen globalen Klimaveränderung – von den jährlich mehr als einer Million Verkehrsopfern auf der Welt insgesamt ganz abgesehen (siehe den Bericht der WHO unter tttp://www.focus.de/panorama/welt/un-mehr-als-eine-million-verkehrstote-weltweit_aid_408400.html). Das Tückische an dieser Entwicklung ist, dass für sich betrachtet jedes einzelne Moment der Eigendynamik eben gerade kontrollierbar erscheint, noch nicht ganz den Punkt erreicht zu haben scheint, an dem das System insgesamt kippt. Im Zusammenwirken seiner vielen Elemente aber bewirkt das automobile Verkehrssystem eine geradezu unglaubliche Gefährdung seiner globalen Umwelt, seiner eigenen Bestandsvoraussetzungen, seiner eigenen Nützlichkeit und Legitimität.

      [12]Wäre externe Kontrolle eine Alternative zur Eigendynamik? Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass der Moloch Straßenverkehr zu mächtig geworden ist, um noch von außen kontrolliert zu werden. Merkliche Eingriffe in Mobilität, Verfügbarkeit, Kostenstruktur oder gar Zulässigkeit des Autoverkehrs erscheinen von vornherein als aussichtslos – nicht nur wegen des millionenfachen Aufschreis »freier Bürger«, die sich »freie Fahrt« auf die Stirn geschrieben haben, sondern weil mit spürbaren Eingriffen tatsächlich wichtige Funktionsvoraussetzungen einer hochindustrialisierten und hochmobilen Gesellschaft gefährdet wären. Also auf Kontrolle verzichten? Auch diese Option ist inzwischen nicht mehr akzeptabel, dazu ist das Problem zu akut und drängend.

      Sieht man genauer hin, so zeigt sich, dass die unvereinbaren Alternativen von ungebremster Eigendynamik und externer Kontrolle sich zu einer raffinierten Scheinlösung verbunden haben. Das System des automobilen Individualverkehrs insgesamt folgt einer unbeherrschten und in hohem Maße zerstörerischen Eigendynamik. Aber es erzeugt zugleich den Schein von Kontrolle und Kontrollierbarkeit, indem einzelne Momente des Systemzusammenhanges in die Form von isolierbaren Einzelproblemen gepackt und korrigierenden (regulativen und/oder technischen) Anforderungen unterworfen werden. Neue Regeln erzwingen die Absenkungen der zulässigen Abgaswerte; der Katalysator wird eingeführt; neue Werte für Maximalverbrauch, neue Werte für die Zusammensetzung des Treibstoffes, höhere Steuern, Vorschriften für car pools; Verkehrsberuhigung, Spielstraßen, Flexibilisierung der Arbeits- und Schulzeiten zur Entzerrung der »Rushhours«; immer neue Programme zur Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, immer neue Programme zur Erhöhung der Attraktivität der öffentlichen Verkehrssysteme, immer neue Projekte zur Verbesserung der Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgersystemen; Forschungsprojekte zur Automatisierung des Straßenverkehrs, Pilotprojekte zu elektronisch gestützten Verkehrsleitsystemen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen mit Anstrengungen zur Kontrolle einzelner Probleme und Auswüchse des Autoverkehrssystems.

      So entsteht der Eindruck, dass mit einer Vielzahl kontrollierender Eingriffe das System insgesamt unter Kontrolle gehalten oder sogar »verbessert« werden könnte. Tatsächlich aber verstärkt sich der Verdacht, dass mit dieser Art von Maßnahmen und Reformen die interessierten Akteure des Systems sich selbst und dem Publikum Kontrollierbarkeit, Planbarkeit und Beherrschbarkeit einreden, während das automobile Verkehrssystem insgesamt außer Kontrolle geraten ist.

      Die Problematik des Autoverkehrs ist nur eines von vielen Beispielen. Auf der Ebene ganzer Gesellschaften lag das Modell wettbewerbsorientierter evolutionärer Anpassung zum Beispiel den groß angelegten Sozialexperimenten[13] der »Reaganomics« in den USA und des »Thatcherismus« in Großbritannien zugrunde. Aber die Anpassung des Systems unter der Führung der »Selbstheilungskräfte« des Marktes hat die tiefliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Asymmetrien eher verstärkt als korrigiert und mehr neue Probleme geschaffen als alte gelöst. Das Modell externer Kontrolle hat Ende der 1980er-Jahre die Führungen der osteuropäischen sozialistischen Systeme dazu verführt, sich einer Fülle von Detailreformen zuzuwenden und darüber die Unreformierbarkeit des Gesamtsystems des praktizierten Sozialismus aus den Augen zu verlieren. Viele ähnliche Illustrationen ließen sich anführen.

      Aus diesem beklemmenden Dilemma von selbstzerstörerischer Eigendynamik einerseits und einer verblendeten Illusion der Kontrolle andererseits soll nun Steuerung herausführen? Das bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist genau dies der Anspruch einer systemtheoretischen Steuerungstheorie, welche die Erfahrung ernst nimmt, dass in vielen konkreten gesellschaftlichen Problemlagen sowohl die Verklärung des Durchwurstelns als selbstkorrigierende evolutionäre Anpassung gescheitert ist, wie auch die Verkürzung des Problems externer Kontrolle auf eine Sequenz isolierter Detaileingriffe. Allerdings geht es in der Theorieentwicklung nicht in erster Linie darum, eine Lösung des konkreten Problems anzubieten. Das muss den beteiligten Akteuren und Systemen schon selbst gelingen. Theorie kann aber eine unabdingbare Voraussetzung jeder praktischen Problemlösung schaffen, indem sie das Instrumentarium für Beobachtungen, Analysen und Strategien bereitstellt. Dies ist notwendig, um verstehen zu können, welche Art und Qualität von Problem vorliegt und welche Formen der Intervention sinnvoll sein könnten.

      So

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