Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung. Stefan Goertz
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Ebd.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 2. Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus › 2.2 Radikalisierungsfaktor islamistische, salafistische, jihadistische Peer Groups und Milieus
2.2 Radikalisierungsfaktor islamistische, salafistische, jihadistische Peer Groups und Milieus
Weil sich beinahe alle Menschen – unabhängig von ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Herkunft – über die Zugehörigkeit zu Gruppen definieren, hat die Funktion von Milieus, des sozialen Nahraumes, eine entscheidende Rolle in der Analyse von Radikalisierungsprozessen.[1] Milieus und Gruppen stiften durch die Faktoren Freundschaft, ethnische Herkunft, Soziolekt und Religion „Lebenssinn“ und daher rekrutieren Islamisten in einem Umfeld, in dem sie auf Grund ihrer Biografie und/oder ihrer aktuellen Situation für eine Radikalisierung besonders anfällige Menschen vermuten (bestimmte Stadtteile, Moscheen, Schulen, Gefängnisse etc.). In Deutschland sind solche salafistischen Milieus auffällig häufig in Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Bonn, Städten des Ruhrgebietes, Bremen, Wolfsburg und Neu-Ulm zu beobachten, wobei die Bedeutung einer Stadt für islamistische Radikalisierungsprozesse vornehmlich von der Existenz einer islamistisch-salafistischen „Infrastruktur“ abhängig ist, die in der Regel aus islamistisch-jihadistisch geprägten Moscheevereinen, Imamen und Aktivisten besteht.[2]
Ob sich jemand dazu entschließt, sich einer Gruppe anzuschließen, die eine Gewaltstrategie verfolgt, hängt u.a. ganz wesentlich von der Gruppe ab:
three factors determine, whether or not an individual supports violent or constitutional politics: ideology, social networks, and expectations of success. [3]
Die aktuelle internationale Forschung geht – anders als von verschiedenen deutschen Sozialwissenschaftlern vertreten, die immer noch sozioökonomische Faktoren für die Radikalisierung „verantwortlich“ machen – davon aus, dass sich bis zu 75% der sich Radikalisierenden aufgrund von Freundschafts- und Familiennetzwerken und deren religiöser Ausrichtung einer islamistischen bzw. salafistischen Gruppe anschließen.[4]
Sozialpsychologische Modelle und empirische Studien betonen die hohe Bedeutung von Gruppen, des Milieus, des sozialen Nahbereiches auf das zu Gewalt neigende Individuum.[5]
Gruppenentscheidungen tendieren dazu, die Rationalität des Individuums zu marginalisieren, so dass individuelle Meinungen und Haltungen hin zur Gewalt verstärkt werden („group polarization“).[6] Individuen schließen sich aufgrund von erwarteten Anreizen und erhofftem Nutzen Gruppen an, dabei suchen manche Individuen eher sozialen Kontakt, andere eher Sinn und Aufgabe, eine dritte Gruppe wiederum ist auf der Suche nach „thrill“.[7] Für Mitglieder einer militanten Gruppe ist Kohäsion, Gemeinschaftsgefühl so wichtig, dass diese Faktoren entsprechend auch extreme Gewalt triggern können, weil die Gruppe diese Taten wohlwollend als Aktionen „für die gemeinsame Sache“ anerkennen und honorieren wird. Das Empfinden, auf der moralisch „richtigen“ Seite zu stehen, kann zudem zu einer Selbstaufwertung führen, die insbesondere bei Gruppen, die sich selbst als benachteiligt erleben („Kampf gegen westliche Demokratien und ihre Sicherheitsbehörden“), einen starken Einfluss haben könnte.[8]
Verstärkt wird diese Tendenz zu extremer Gewalt noch durch die psychologisch analysierte Neigung, dass sich Individuen als Teil einer Gruppe weniger verantwortlich für gewalttätige Aktionen empfinden (Verantwortungsdiffusion).[9] Auch die Faktoren Stressoren, Verluste und enttäuschte Erwartungen sind häufig verbunden mit Anfälligkeiten für eine Radikalisierung in Gruppen wie Wendepunkte im Leben, affektive Bindung zur Gruppe, intensive Einflussnahme durch die Ingroup und können mit dem Phänomen sog. vulnerabler Persönlichkeiten verbunden werden.[10] Daneben haben experimentelle und affektive Motive bzw. Typen eine wichtige Funktion bei (individuellen) Radikalisierungsprozessen.[11]
Die experimentellen Typen suchen nach Identität und Gruppenmitgliedschaft, während die affektiven Typen starke Emotion bzw. emotionale Bindungen anstreben. Diese experimentellen und affektiven Motive und Typen sind besonders im Phänomenbereich militanter Islamisten und jihadistischer Gruppen stark vertreten.[12]
Da Menschen das Bedürfnis haben, „dazuzugehören“, wollen sie, dass die eigene Gruppe und sie selbst positiv bewertet werden. Entsprechend hat die eigene Gruppe (Ingroup) eine große identitätsstiftende Wirkung. Wenn die Gruppe nun für eine als wichtig, essenziell, existenziell wahrgenommene Sache (Allah der „Islamische Staat“ als Kalifat der Gegenwart) kämpft, dann gewinnt jeder Einzelne in der Gruppe an Bedeutung. Darüber hinaus wird durch den Kampf für eine gemeinsame Sache bzw. gegen andere der Gruppenzusammenhalt verstärkt. Nach dieser Logik muss die Gruppe gegen andere Personen, die die eigene Lebensweise vorgeblich bedrohen, verteidigt werden.[13]
Die eigene Gruppenzugehörigkeit ermöglicht eine Abgrenzung zu anderen Gruppen (outgroup hate), was eine Abwertung der anderen Gruppe bewirkt und dualistisches Schwarz-Weiß-Denken in Form von „Wir gegen die Anderen“ erzeugt. In letzter Konsequenz werden die Mitglieder der Outgroup nicht mehr als Individuen wahrgenommen (De-Individualisierung). Diese De-Individualisierung ermöglicht die Entstehung einer Distanz zu den Mitgliedern der anderen Gruppe, da Anonymität einen emotionalen Rückzug ermöglicht. Wer keine Empathie (mehr) für „die Anderen“ empfindet, wird eher dazu neigen, Mitglieder der Outgroup zu verletzen und/oder zu töten.[14]
Die Abwertung der Mitglieder der Outgroup wird unter anderem verstärkt durch:
• | Kulturelle und ethnische Unterschiede: Die Outgroup wird als Feind oder Sündenbock wahrgenommen. Traditionelle Gruppenunterschiede ermöglichen oft eine Diffamierung der Mitglieder der anderen Gruppe als kulturell niedere Lebensform, was sich unter anderem allein durch den Sprachgebrauch („Kuffar, Hunde, Schweine“) zeigt. Die Entmenschlichung der anderen spielt eine vitale Rolle bei der Anwendung von Gewalt. |
• | Die Überzeugung, moralisch überlegen zu sein und den Glauben an den Kampf für die gerechte Sache: Der Kampf erscheint als legitime Selbstverteidigung, das Töten wird zum Akt der Gerechtigkeit (Verteidigung des Kalifats). |
In Gemeinschaften mit „engen“ Wertvorstellungen, wie sie beispielsweise von islamistischen, salafistischen und jihadistischen Gruppen vertreten werden, ist der freie Austausch von Ideen unerwünscht. Freund-Feind-Schemata werden kreiert und verstärkt, basierend auf dem typischen Schwarz-Weiß-Denken.[15]
Der im Unterkapitel 2.1 erläuterte religiös-politische Exklusivitätsanspruch des Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus strebt danach, auf verschiedenen Ebenen potenzielle Anhänger und potenzielle religiös-politisch motivierte Täter möglichst total einzunehmen. Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert, offensives, öffentliches Missionieren gehört zu den Aufgaben der Ideologie Islamismus.[16] Im Rahmen der Teilnahme an (islamistischen, salafistischen) „Islamseminaren“ wird der Prozess der Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung von charismatischen Führungspersönlichkeiten und der Peergroup gefördert und vorangetrieben. Neben den „Islamseminaren“ werden auch sog. „Benefizveranstaltungen“, Spendensammelaktionen für „Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Not“, für die Verfestigung der Ideologie genutzt, indem der Glaube durch die helfende Tat „gelebt“ und die sozialen Strukturen des salafistischen Milieus weiter vernetzt werden.[17]