Parlamentsrecht. Philipp Austermann
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Abgesehen von den beschriebenen Änderungen führte der Weimarer Reichstag die Organisation und die Arbeitsweise des kaiserlichen Parlaments im Wesentlichen fort: Weiterhin bestanden Proporzregeln für die Binnenorganisation. Die Sitzungszahl lag weiterhin bei über 100 pro Jahr.[60] Allerdings nahm die Ausschussarbeit „in einem exorbitanten Maß zu, wobei das Schwergewicht bei der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik lag.“[61] Die Regierungen wurden weiterhin eher als Gegenspieler des Parlaments verstanden, obwohl sie sich bis 1930 weitgehend auf Parlamentsmehrheiten stützten und ihre Mitglieder überwiegend Parteivertreter und Abgeordnete waren. Die inhaltliche Ausarbeitung der Gesetze wurde weiterhin der Regierung überlassen; Entwürfe aus der Mitte des Reichstages waren oftmals handwerklich mangelhaft, auch weil die Abgeordneten keine Mitarbeiterstäbe besaßen, die ihnen hätten zuarbeiten können.[62]
d) Zurückdrängung des Reichstages ab 1930[63]
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Reichskanzler Hermann Müller (SPD), der eine lagerübergreifende Koalition angeführt hatte, trat am 27. März 1930 aus vergleichsweise nichtigem Anlass zurück. Die Anhänger eines autoritären Staates im Umfeld des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg nutzten die Uneinigkeit der Parteien und begannen ihre politischen Vorstellungen zu verwirklichen. Der Reichspräsident suchte nun die Reichskanzler weitgehend ohne Fühlungsnahme mit den Reichstagsfraktionen aus. Die Zeit der sog. Präsidialkabinette begann. Sie war „die Auflösungsphase der ersten deutschen Demokratie“[64]. Die Reichsregierung Brüning (1930-32) wurde ab der verheerenden Reichstagswahl vom 14. September 1930 noch von der Parlamentsmehrheit aus SPD, Zentrum und kleineren Parteien unterstützt bzw. toleriert. Eine Regierungsbeteiligung der NSDAP sollte auf diese Weise verhindert werden. Die Kabinette von Papen (1932) und von Schleicher (1932/33) sowie das erste Kabinett Hitler (1933) stützten sich allein auf das Vertrauen des Reichspräsidenten. Recht wurde von 1930-33 in einer denkbar weiten Auslegung des Art. 48 Abs. 2 WRV häufig durch Notverordnungen gesetzt. Die Zahl der vom Parlament verabschiedeten Gesetze nahm gleichzeitig ab, dem korrespondierend die Zahl der Reichstagsdrucksachen.[65] Die von der Forschung ermittelten Zahlen für Notverordnungen und Parlamentsgesetze schwanken je nach Autor leicht.[66] Die Tendenz ist aber in allen Veröffentlichungen dieselbe: Standen 1930 einer Handvoll Notverordnungen noch 98 Parlamentsgesetze gegenüber, wurden 1931 schon etwas mehr Notverordnungen als Parlamentsgesetze erlassen. Im Jahr 1932 erließ der Reichstag nur noch fünf Parlamentsgesetze, der Reichspräsident hingegen rund 60 Notverordnungen.
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Der Reichstag und die demokratischen Parteien wurden, durch drei Neuwahlen in drei Jahren (davon zwei im Jahr 1932) und die Notverordnungspraxis, als politische Entscheidungsträger bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler (30. Januar 1933) im Wesentlichen ausgeschaltet. Reichstagssitzungen fanden kaum mehr statt. Im Jahr 1932 trat der Reichstag nur dreizehnmal zusammen. Auch die Ausschüsse und die Fraktionen tagten nur noch selten. Die innenpolitische Machtbalance verschob sich von der Legislative zur Exekutive. Ein Verfassungswandel[67] von der parlamentarischen zur präsidialen Republik war zu beobachten.
e) Selbstentmachtung durch das Ermächtigungsgesetz[68]
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Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Der Plenarsaal wurde vollständig zerstört. Ein Fanal für die Zukunft der Republik. Wer auch immer den Brand gelegt oder dazu angestiftet hatte: die Regierung Hitler nutzte ihn umgehend aus. Die einen Tag nach dem Brand, am 28. Februar 1933, erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (sog. Reichstagsbrandverordnung) setzte „bis auf Weiteres“ die meisten Grundrechte außer Kraft. Sie galt bis zum Ende des NS-Regimes im Mai 1945. Bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 erreichte die NSDAP nur gemeinsam mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ (unter anderem DNVP, Stahlhelm und parteilose Rechtskonservative) die absolute Mehrheit der Sitze, obwohl der Wahlkampf anderer Parteien zum Teil massiv behindert worden war. Viele Zeitungen und Demonstrationen der linken Parteien waren mithilfe einer Notverordnung vom 4. Februar 1933 (sog. Schubladenverordnung) verboten worden. Die Organisation der KPD war zerschlagen worden. Viele ihrer Funktionäre befanden sich in „Schutzhaft“ oder auf der Flucht. Auch viele SPD-Funktionäre wurden verhaftet oder waren zur Emigration gezwungen. Hitler wollte Gesetze ohne Befassung des Reichstages (des Reichsrates und des Reichspräsidenten) erlassen können. Sein Ziel war die Verfassungsänderung durch ein Ermächtigungsgesetz, das die Gesetzgebung der Reichsregierung übertrug. Dafür war nach Art. 76 Abs. 1 S. 2 WRV eine doppelte Zweidrittelmehrheit erforderlich: Bei der Abstimmung mussten zwei Drittel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sein und zwei Drittel der Anwesenden dem Gesetz zustimmen. Durch Versprechungen an das Zentrum gelang es den Nationalsozialisten, dieses zur Zustimmung zu bewegen. Auch die Abgeordneten der BVP und der anderen bürgerlichen (Splitter-)Parteien stimmten dem Gesetz zu. Das Gesetz erhielt 444 von 538 abgegebenen Stimmen. Damit wurde die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Mitglieder und der Anwesenden erreicht. Der Reichstag entmachtete sich, den Reichsrat und auch den Reichspräsidenten durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933[69], das Ermächtigungsgesetz, endgültig selbst. Nur die anwesenden 94 Abgeordneten der SPD stimmten mit „Nein“. Die 81 KPD-Mandate, deren Inhaber ohnehin schon verhaftet, untergetaucht oder ins Ausland geflohen waren, wurden „als nicht existent behandelt“[70]. Über die Verfassungsmäßigkeit des Ermächtigungsgesetzes ist viel gestritten worden. Auch wenn eine verfassungs- oder parlamentshistorische Darstellung nicht in der Lösung vergangener Rechtsfälle ihren Sinn findet: Richtiger Auffassung nach ist es nicht verfassungsgemäß zustandegekommen. Die einschüchternde SA- und SS-Präsenz im und vor dem Plenarsaal[71] war geeignet, die freie Willensentschließung und Abstimmung der Abgeordneten (Art. 21 WRV) einzuschränken. Die bedrohliche Atmosphäre im Sitzungssaal, die noch dadurch verstärkt wurde, dass der Raum mit Hakenkreuzflaggen dekoriert war und der Reichstagspräsident Göring sowie die übrigen NSDAP-Abgeordneten in Uniform erschienen, vermittelte den (nicht unbegründeten) Eindruck, Nein-Stimmen würden Leib und Leben gefährden. Die äußeren Umstände der Sitzung führten zur Unwirksamkeit der Abstimmung.[72]
2. Bundesrepublik Deutschland
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Nach dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges begann das parlamentarische Leben unter Aufsicht der Westalliierten zunächst wieder in den Ländern. 1948 beauftragten die drei Westalliierten die elf Ministerpräsidenten aus den drei westlichen Besatzungszonen, eine Verfassung für die Westzonen zu entwerfen. Die Landesparlamente wählten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Dieser erarbeitete den Entwurf des Grundgesetzes. Das Bonner Grundgesetz wurde von den Landtagen mehrheitlich angenommen, von Konrad Adenauer am 12. Mai verkündet und trat am 23. Mai 1949 in Kraft.
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Das Grundgesetz stellt den Bundestag in das Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems. Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63, 67 GG). Er darf sich nicht selbst auflösen. Allein der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen – und dies nur in den in Art. 63 Abs. 4 S. 3 und Art. 68 Abs. 1 GG genannten beiden Fällen. Dazu ist es bislang dreimal gekommen (1972, 1982 und 2005).
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