Völkerrecht. Bernhard Kempen
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Drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Gebiet mittels Ersitzung erworben wird. Erforderlich ist (1.) die ungestörte, ununterbrochene und unbestrittene Herrschaftsausübung (2.) über geraume Zeit (3.) mit entsprechenden Herrschaftswillen (animus domini). Von der Okkupation unterscheidet sich die Ersitzung dadurch, dass die Okkupation die Herrenlosigkeit eines Gebiets voraussetzt, während die Ersitzung gerade im Hinblick auf fremdes Staatsgebiet erfolgt. Wenngleich die Ausübung von → Staatsgewalt auf fremdem Territorium zunächst völkerrechtswidrig ist, trägt das Völkerrecht im Interesse des Rechtsfriedens der unwidersprochen gebliebenen Verfestigung der tatsächlichen Verhältnisse über einen langen Zeitraum hinweg durch Legalisierung Rechnung. Der für die Ersitzung erforderliche Zeitraum lässt sich abstrakt nicht bestimmen, Besitz seit unvordenklichen Zeiten ist jedenfalls nicht nötig. Dass das Völkerrecht diesbezüglich keine exakten Vorgaben macht und machen kann, wird teilweise als weiteres Argument gegen das Rechtsinstitut der Ersitzung angeführt. Demgegenüber ist auf das common law zu verweisen, das ebenfalls keine präzisen Fristen für die Ersitzung kennt. Abzustellen ist auf die Umstände des Einzelfalls. In subjektiver Hinsicht ist das Vorliegen eines Erwerbswillens, nicht hingegen Gutgläubigkeit des Besitzenden erforderlich. Hierin unterscheidet sich der völkerrechtliche Ersitzungstatbestand von dem des römischen Rechts.
4. Adjudikation
Wenn ein Gebiet mittels Adjudikation erworben wird, so erfolgt dies durch eine konstitutiv wirkende Entscheidung einer internationalen Instanz. Hierbei muss es sich nicht notwendigerweise um ein Gericht oder → Schiedsgericht handeln, möglich ist auch die Entscheidung einer → Internationalen Organisation (z. B. Zusprechung der Aaland-Inseln an Finnland durch den Völkerbundrat im Jahr 1921). Da der Adjudikation rechtsgestaltende Wirkung zukommt, sind all diejenigen Fälle auszunehmen, in denen über die Gebietszugehörigkeit allein auf Grundlage des geltenden Völkerrechts entschieden wird. Derartige Urteile des → IGH oder eines Schiedsgerichts (→ Schiedsgerichtsbarkeit, internationale) besitzen lediglich feststellenden Charakter und bilden daher keinen Fall der Adjudikation.
5. Naturereignisse
Unter gewissen Umständen können Naturereignisse einen Gebietserwerb zur Folge haben. Beispiele sind die allmähliche Anschwemmung von Land (alluvio) oder das Auftauchen von Inseln in den Territorialgewässern eines Staates. Demgegenüber hat eine durch Naturkatastrophen o.Ä. bewirkte plötzlichen Änderung eines Flusslaufs (avulsio), welcher die Grenze zwischen zwei Staaten bildet, keine Auswirkungen auf den Grenzverlauf und damit auf den Gebietsbestand.
1. Annexion
Nach klassischem Völkerrecht gehörten zur staatlichen → Souveränität das Recht zur Kriegführung (ius ad bellum) und, damit einhergehend, das Recht, sich das Territorium des unterlegenen Staates im Wege der Annexion einzuverleiben. Im modernen Völkerrecht ist dem Rechtsinstitut der Annexion durch die Etablierung des → universellen Gewaltverbots (Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch.) der Boden entzogen. Da gemäß den Regeln des intertemporalen Völkerrechts die Rechtmäßigkeit eines Gebietserwerbs nach dem zum jeweiligen Erwerbszeitpunkt geltenden Recht zu beurteilen ist, kann die Annexion auch heute noch eine Rolle spielen.
Die Wirksamkeit einer Annexion war nach klassischem Völkerrecht von der vollständigen und endgültigen Inbesitznahme des annektierten Gebiets sowie einem entsprechenden Annexionswillen abhängig. An Letzterem fehlte es im Falle der Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Bezug auf Deutschland durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, da diese in der Berliner Erklärung vom 5.6.1945 eine Annexion ausdrücklich ausgeschlossen hatten („The assumption [. . .] of the said authority and powers does not effect the annexation of Germany“).
Die Absolutheit des universellen Gewaltverbots, das neben seiner völkervertraglichen Grundlage nach h.M. zugleich als → Völkergewohnheitsrecht im Range von → ius cogens gilt, bringt es mit sich, dass ein dagegen verstoßender Gebietserwerb nicht allein völkerrechtlich unwirksam ist. Die materielle Nichtigkeit des Gebietserwerbs wird zugleich durch ein Anerkennungsverbot für Drittstaaten flankiert. Diese zunächst vom US-amerikanischen Außenminister Stimson 1932 im Zusammenhang mit der japanischen Besetzung der Mandschurei 1932 als politische Erklärung ausgegebene Doktrin (sog. Stimson-Doktrin) hat sich durch spätere Übernahme im Rahmen des → Völkerbundes sowie anschließend in den → Vereinten Nationen – insbesondere durch die → Friendly Relations-Declaration und die Aggressionsdefinition der Generalversammlung – mittlerweile ihrerseits zu Völkergewohnheitsrecht verfestigt. Sie kommt heute in Art. 41 Abs. 2 der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit zum Ausdruck. Durch das Anerkennungsverbot tritt das ansonsten im Völkerrecht dominierende → Effektivitätsprinzip zugunsten des Legalitätsprinzips in den Hintergrund. Je länger eine faktisch verfestigte Lage andauert, umso schwieriger wird es allerdings für die Staatengemeinschaft, an der Rechtsfolge der Unwirksamkeit strikt festzuhalten.
Das Annexionsverbot wird in der Literatur bisweilen dadurch relativiert, dass es nur für den rechtswidrigen Aggressor, nicht hingegen für den sich rechtmäßig Verteidigenden (Art. 51 UN-Ch.) gelten soll. Der Gedanke, dass ein potentieller Aggressor durch das Risiko etwaiger Gebietsverluste von einem Angriff abgehalten werden soll, vermag indes nicht zu überzeugen. Der zentrale Rang des Gewaltverbots in der heutigen Völkerrechtsordnung spricht vielmehr dafür, auch dem Angreifer den Schutz des Annexionsverbots zugute kommen zu lassen.
2. Kontiguität
Die geographische Nähe (insbesondere) von dem Küstenmeer vorgelagerten Inseln zum Festland bietet für sich genommen keinen Gebietstitel. Die Gültigkeit dieser sog. Kontiguitätstheorie ist schon von Schiedsrichter Max Huber im Palmas-Schiedsspruch zurückgewiesen worden (ZaöRV 1 [1929], Teil 2, S. 3 [35 f.]). Später hat die Kontiguitätstheorie vor allem im Zusammenhang mit Ansprüchen in Bezug auf die Arktis oder Antarktis Bedeutung erlangt, und zwar in der Unterspielart der sog. Sektorentheorie. Auf dieser Grundlage haben einige Anrainerstaaten der Antarktis Gebietsansprüche geltend gemacht, während die h.L. die Antarktis als terra nullius betrachtet. Im Antarktis-Vertrag (Sart. II, Nr. 390) wird diese Frage offen gelassen (Art. IV). Hinsichtlich der Arktis scheiden zwar Gebietsansprüche im Wesentlichen aus, da es sich nicht um eine Landmasse handelt. Jedoch machten Kanada 1907 und die Sowjetunion 1926 auf der Grundlage der Sektorentheorie Gebietsansprüche hinsichtlich nördlich gelegener Inseln geltend. Demgegenüber vermochte die von Russland im August 2007 medienwirksam inszenierte Installation einer russischen Flagge auf dem Meeresboden des Nordpols keine Gebietsansprüche zu begründen, sondern sollte lediglich russische Ansprüche hinsichtlich der dortigen Naturvorkommen untermauern.
G › Gebietshoheit (Marten Breuer)