Der Sichelmond. Massimo Longo
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Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine seltsame Brille auf der Nase. Er las ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband. Die Seiten waren aus Seidenpapier. Das Buch schien gut hundert Jahre alt zu sein. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit großer Krempe, die sein Gesicht verdeckte. Er wirkte zugegebenermaßen alles andere als vertrauenerweckend.
Helios drehte sich nicht um, sondern beobachtete das Spiegelbild weiter durch die Fensterscheibe. Allein mit diesem Kerl zu sein, machte ihm Angst. Jetzt wünschte er sich, dass sein großer, starker Cousin so schnell wie möglich ins Abteil zurückkehren würde, aber von ihm und Gaia war weit und breit nichts zu sehen.
Währenddessen las der Mann weiter in seinem Buch und hielt nur gelegentlich inne, um auf eine alte Uhr zu schauen, die er aus der Westentasche, unter seinem eleganten aber altmodischen Anzug zog.
Das brachte Helios noch mehr auf die Palme. Er fragte sich, worauf er wartete, es musste sich ganz sicher um etwas sehr Wichtiges handeln, wenn er ununterbrochen auf die Uhr schaute.
Dann, nachdem der Mann ein weiteres Mal auf seine Uhr geschaut hatte, klappte er das Buch plötzlich zu und bückte sich, um etwas aus seiner schwarzen Tasche zu holen, die zwischen seinen Beinen auf dem Boden stand. Die leicht hochgezogenen Hosenbeine gaben den Blick auf die schwarzen, mageren Knöchel und die seltsamen Socken frei, die wie schwarzes Fell aussahen.
Helios konnte seine Angst nicht mehr unter Kontrolle halten und fing an zu zittern. Da fing der Mann, während er weiter in der Tasche kramte, an zu lachen, so als hätte er sein Entsetzen bemerkt. Es war ein tiefes, schauriges Lachen, das in Helios Ohren widerhallte und um es nicht länger hören zu müssen, hielt er sich mit beiden Händen die Ohren zu. Er schloss die Augen, um das Spiegelbild dieses Mannes im Fenster nicht länger sehen zu müssen und betete im Stillen: „Mach, dass Libero zurückkommt, mach, dass Libero zurückkommt“.
Die Tür zum Abteil öffnete sich mit entschiedenem Schwung.
„Helios, was machst du da? Hast du dir in der Stadt eine Ohrenentzündung eingehandelt? Du willst doch hoffentlich nicht uns arme Bauerntölpel mit diesem Virus für zivilisierte Stadtmenschen umbringen!“
Helios zuckte zusammen, dann, als er die scherzende Stimme seines Cousins erkannte, drehte er sich um und sah Libero, der mit einer Tüte und einem Getränk in der Hand auf der Türschwelle stand und lachte. Hinter ihm biss Gaia in ein riesiges Croissant.
Von dem Mann keine Spur, wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Es war alles verschwunden: der Mann, sein Buch, seine Uhr und seine Tasche.
Libero setzte sich neben ihn, gab ihm ein Croissant und bemerkte, dass er zitterte.
„Ist etwas passiert?“, fragte er ihn.
„Ich denke, ich bin nur etwas reisekrank vom Zugfahren ...“, log Helios.
Gaia verstand, dass ihr Bruder einen seiner Anfälle bekommen hatte und nahm sich vor, Libero unter vier Augen davon zu erzählen.
Der Rest der Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Libero erzählte den Freunden vom Erntefest, das in Kürze stattfinden würde und an dem alle Nachbardörfer teilnahmen. Die Veranstaltung würde im Freien stattfinden, mit Volkstänzen wie der Taranta, aber auch mit moderneren Tänzen.
Helios blickte seine Schwester und seinen Cousin an und fragte sich, wie die beiden so schnell auf eine Wellenlänge gekommen waren. Aber er war froh, nicht allein zu reisen, diese seltsamen Ereignisse fingen an, ihn zu beunruhigen. War er das Opfer einer Verschwörung oder sollte er anfangen an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln?
Libero wurde aufgeregt, es war an der Zeit, sich zum Aussteigen vorzubereiten. Aus dem Fenster hatte er das Haus von Frau Gina gesehen, das er als Orientierungspunkt gewählt hatte. Der Zug hielt an, er trug alle Koffer, während Gaia die Wagentür öffnete und nach draußen sprang, sie war aufgeregt wie jemand, der wie sie sehr wenig reiste.
Die Einheimischen bezeichneten das, was nicht mehr als eine Haltestelle war, als Bahnhof. Der einzige Komfort waren ein Unterstand mit einem undichten Dach und ein Fahrkartenautomat, der immer außer Betrieb war und zu allen Passanten sagte: „Wir weisen darauf hin, dass der Bahnhof unbewacht ist. Seien Sie vorsichtig vor Taschendieben!“.
Libero holte tief Luft und meinte:
„Endlich kann man wieder atmen! Herzlich willkommen in Campoverde.“
„Ich rieche schon den Duft der Felder“, bemerkte Gaia, „Riechst du es nicht auch, Helios?“
Helios bemerkte keinen Unterschied zur Stadt und zuckte nur mit den Schultern.
„Helios, du nimmst Gaias Koffer, ich trage den Rest“, befahl Libero.
Gaia amüsierte dieses Kavaliersverhalten, das sie in anderen Situationen als störend empfunden hätte. Es war aber so natürlich, dass sie das Spiel amüsiert mitspielte. Vielleicht hatte sie zu voreilig über ihren Cousin geurteilt, so ein Dummling war er eigentlich gar nicht ...
Gaia und Libero gingen wohlgelaunt am Automaten, der zum x-ten Mal denselben Satz wiederholte, vorbei in Richtung Unterführung.
Helios musste Gaias riesigen Koffer mit beiden Händen packen, um die Treppen der Unterführung hinunter und dann wieder hinauf zu steigen. Das war echt anstrengend.
Er war überzeugt, dass die Tante mit ihrem Auto auf sie wartete, sodass er auf den letzten Stufen alle seine Kräfte zusammenraffte.
Aber draußen vor dem Bahnhof angekommen, erwartete sie nur ein leerer Parkplatz. Libero bog zusammen mit seiner Cousine links auf eine enge und mehr schlecht als recht gepflasterte Straße ab. Auf beiden Seiten der Straße gab es nur zwei Wasserkanäle, die die Straße auf der einen Seiten von den Maisfeldern und auf der anderen von den Weizenfeldern trennten.
Helios schnappte nach Luft und schrie ihnen verzweifelt zu, anzuhalten. Seine Schwester drehte sich verwundert um, sie hatte ihren Bruder seit Jahren nicht mit lauter Stimme sprechen, geschweige denn, derart schreien hören.
„Wo ist Tante Idas Auto?“, fragte Helios.
„Oh, ich habe vergessen zu sagen, dass sie mich vorhin angerufen hat, um mir zu sagen, dass sie nicht kommen kann. Camilla, unsere Kuh, könnte jede Minute kalben und sie kann sie nicht allein lassen“.
„Camilla, kalben? Aber wie sollen wir das schaffen?“, fragte Helios, außer Atem.
„Keine Sorge, es sind nur vier Kilometer bis zum Bauernhof“, erklärte Libero mit ruhigem Tonfall.
„Vier Kilometer?“, waren Helios letzte Worte.
„Komm schon, Mann! Der Koffer deiner Schwester hat sogar Räder!“, spornte Libero ihn an und lief weiter.
Von Weitem konnte man schon die ersten Häuser des Dorfes sehen.
„Da ist es! Das Haus mit dem Kirschbaum davor, das ist unser Bauernhof“.
Libero zeigte auf ein Bauernhaus in venezianischem Rot mit dunkelgrünen Fensterläden. Vor dem Haus gab es einen wunderschönen gepflegten Garten, hinter dem Haus befanden sich der Stall und die Wäscheleinen, und daher erstreckten sich die Felder.
„Mama, wir sind da!“, rief Libero, während er die Koffer auf dem Fußweg abstellte und zum Stall