Geist & Leben 3/2021. Verlag Echter
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Der Neubeginn, den Esprit anstoßen will, ist durch die Krise von 1929 ausgelöst. Jedoch führen die Personalisten die Krise nicht allein auf wirtschaftliche und soziale Gründe zurück, sondern in erster Linie auf ein reduktionistisches Menschenbild, welches das isolierte „Individuum“ in den Mittelpunkt stellt, das der Welt und den anderen Menschen aus Distanz begegnet. Dagegen entdecken sie in der „Person“ einen Gegenbegriff, der gar nicht ohne andere Personen zu denken ist.
Entdeckung der Person
Die Personalität des Menschen zeigt sich in grundlegenden Erfahrungen. Diese führen zu der Einsicht, dass Personen immer schon in der Welt engagiert und mit anderen Personen verbunden sind. Eine dieser Erfahrungen ist die Kommunikation, die jedem Für-sich-sein vorausgeht.3 Daher kommt neben dem grundsätzlichen Nachdenken über den Menschen als Person auch der Einsatz in konkreten Kontexten zur Sprache: Esprit nimmt Stellung zu den zeitgenössischen politischen Fragen (z.B. Spanischer Bürgerkrieg, Appeasement-Politik, Nationalsozialismus). Vor kirchlichen Autoritäten muss sich die Revue hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken rechtfertigen. In der Familie stehen Emmanuel und Paulette vor der Herausforderung, dass eine ihrer Töchter, Françoise, an einer Gehirnkrankheit leidet. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Mounier eingezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung versucht er, Esprit weiterzuführen und das totalitär ausgerichtete Vichy-Regime subversiv zu kritisieren. Das Vorhaben fliegt auf und er wird inhaftiert (in Lyon, Clermont-Ferrand, Grenoble, wo er Gefängnistagebücher führt, die Teil der Entretiens sind), tritt in Hungerstreik, wird schließlich entlassen und zieht sich mit seiner Familie in den kleinen Ort Dieulefit südwestlich von Grenoble zurück. Nach der Befreiung Frankreichs ist Esprit die erste intellektuelle Revue, die wieder erscheint. Familie Mounier und weitere befreundete Familien ziehen auf das Anwesen „Les Murs Blancs“ in Chatenay-Malabry in der Nähe von Paris, um dort in einer Art personalistischer Kommune zu leben. In der Nachkriegszeit bereist Mounier eine ganze Reihe europäischer Länder (u.a. Deutschland) sowie das unter französischer Kolonialherrschaft stehende Westafrika. Es entstehen neben den vielen Beiträgen für Esprit einige Monographien wie Traité du caractère, Introduction aux existentialismes, L’affrontement chrétien, Le personnalisme und schließlich Feu la chrétienté. Am 22.03.1950 stirbt Emmanuel Mounier an Herzstillstand.
Warum schreibt Mounier die Entretiens?
Wer die 14 Cahiers und drei Journaux d’un détenu zur Hand nimmt, findet unterschiedliche Textgattungen, wie die ersten Protokolle der Grenobler Arbeitsgruppe, Gefängnistagebücher oder Reflexionen, warum Mounier diese Notizen festhält – so z.B. am 20.06.1935, also in dem Jahr, in dem er Paulette heiratet, was für ihn auch eine Zäsur in Hinsicht auf die Entretiens bedeutet: „Immer weniger Zeit, sofort Notizen zu machen. Doch sind sie nützlich. Vor einigen Jahren waren sie es aufgrund des lyrischen Bedürfnisses, des Bedürfnisses, mit mir einen Dialog zu führen, mein inneres und privates Leben eingeschlossen, welches ohne Spiegel umhergeirrt wäre. Seit ich Poulette kenne, seit es vor allem kein beabsichtigtes Geheimnis mehr zwischen uns gibt, Dinge, über die man nicht spricht, ist sie mein Spiegel und mein Schreibzeug. Auch das, was ich ihr gegenüber nicht ausspreche, stößt nicht mehr auf eine Mauer der Abwesenheit, welche es zu sich zurückströmen lässt. Deshalb ist hier, um der Überbelastung abzuhelfen, nur noch von äußeren Ereignissen die Rede, einem Bruchteil meines Lebens, für dessen Ortung ich gerade noch die Zeit habe, ohne all ihre Resonanzen benennen zu können. [Die Notizen sind] jedoch von Nutzen, um mich nicht über ihre wahre Geschichte zu täuschen, wenn ich später darüber Zeugnis abzulegen habe, worin ich mich überall eingemischt habe, oder bloß, um mich in dem zurechtzufinden, was daraus hervorgeht. Um mir nicht selbst die Vergangenheit passend zu machen, wenn ich ein Alter erlange, wo man zurückschaut, um das zu regeln, was uns an Zeit bleibt.“ (539f.) Die Notizen haben also den Sinn, ihrem Verfasser selbst den Spiegel vorzuhalten – eine Aufgabe, die endet, als er ein vorbehaltloses Leben mit seiner Lebenspartnerin beginnt.
„Seelendialog“ und Zeugnis
Neben dieser Funktion des Seelendialogs (vgl. Platons Sophistes 263 e 3–5) gibt es aber auch noch die Zeugnisfunktion der Cahiers: Mounier will sich der tatsächlichen Ereignisse versichern, um gewissermaßen ein zukünftiges Wahrheitsarchiv gegen sich selbst, d.h. seine Erinnerung, anzulegen. Die innere wie die äußere Funktion zeigen das Spannungsverhältnis, in der sich die menschliche Person befindet: Das eigene Selbst meditierend, aber immer in Beziehung zur Welt und zu den anderen Personen, die dadurch ein Recht auf ein „wahres“ Zeugnis erlangen.
Die anderen Personen treten aber nicht erst im Nachgang zur eigenen Person hinzu, sondern sind ihr immer schon ko-präsent. Mouniers Notizen modellieren daher nicht seine Begegnungen nach seinem Gusto, sondern bezeugen die Gegenwart der eigenen Person in der Gegenwart der anderen Personen – und sind diese nicht vorhanden, tritt an ihre Stelle in Anlehnung an die platonische Dialogdefinition ein „innerer Gesprächspartner“: „Die wichtigste von allen [unseren Arbeitsmethoden] ist die, dass die Intelligenz ein Werk des Dialogs ist. Wenn sie niemanden hat, mit dem sie in Dialog treten kann, erschafft sie sich selbst einen imaginären Gesprächspartner, um mit sich selbst in Dialog zu treten. Ihre Erfahrung besteht darin, dass der Monolog tötet. Sie kennt ihn und nennt ihn fixe Idee, und die fixe Idee treibt in den Wahnsinn. Eine physische Kraft geht ihren Weg geradeaus und alle Widerstände, die ihr begegnen, sind für sie nur Reibungsverluste. Eine Idee lebt nur dadurch, dass sie sich auf diese Widerstände stützt. Sie festigt sich durch ihre Opposition, vervielfacht sich durch ihr Netz, entsteht durch ihre Kontaktnahmen.“4 Erkenntnis ist also nicht, wie in cartesianischer oder kantischer Perspektive, die alleinige Leistung eines Subjekts, sondern immer schon in einen intersubjektiven Prozess eingebunden, und das Gespräch ist in diesem niemals etwas Zweitrangiges. Diese philosophische Positionierung, die Mounier stark an die zeitgenössischen phänomenologischen Arbeiten eines Maurice Merleau-Ponty und die personalistischen eines Maurice Nédoncelles heranrücken, ist an dieser Stelle wichtig, um zu verstehen, dass auch seine Notizen diesen intersubjektiven Prozess widerspiegeln.
Als Person Personen begegnen
Die Entretiens werden hier also als die praktische Umsetzung von Mouniers personalistischem Ansatz verstanden, oder vielleicht eher andersherum: Aus seinen Begegnungen erwächst in gewisser Weise seine philosophische Position – und die Notizen dokumentieren die Erfahrungen, auf denen der Personalismus gründet, weil die Begegnung des Selbst mit anderen als eine universelle menschliche Grunderfahrung interpretiert wird. In den Entretiens zeigt sich, was es heißt, eine Person zu sein und als Person zu leben. Dass dieser Anspruch nicht nur von außen an die Texte herangetragen wird, sondern dass auch Mounier eine „personalistische Praxis“ intendierte, geht aus einem Brief hervor, den er an seine spätere Frau Paulette am 01.09.1933 schreibt. Rückblickend auf sein bisheriges Leben heißt es dort: „Personen zu begegnen, das erwartete ich vom Leben.“5 Und in Le personnalisme heißt es darüber, wie man die Person „beweisen“ könne: „[M]an lebt öffentlich die Erfahrung des personalen Lebens und hofft, damit eine große Anzahl zu überzeugen, die wie Bäume, Tiere oder Maschinen leben.“6 Denn darin besteht „das Paradox der personalen Existenz: Sie ist die eigentlich menschliche Art und Weise der Existenz. Und doch muss sie unablässig errungen werden.“7 Die Entretiens lassen sich also sowohl als Zeugnis des (inter-)personalen