ad Hannah Arendt - Eichmann in Jerusalem. Werner Renz

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sind und weil es unter diesen Folgerungen keine Strafe gibt, die adäquat wäre. Das heisst nicht, dass jedes Böse bestraft werden muss; aber es muss, soll man sich versöhnen oder von ihm abwenden können, bestrafbar sein.«23

      Der unbestrafbaren Tat stand das legitime Gerechtigkeitsverlangen nicht nur der Opfer entgegen. Arendt wollte in Jerusalem einerseits eine exemplarische Figur wie Adolf Eichmann ergründen, sie wollte andererseits sehen, wie das Bezirksgericht »the difficulties of judging crimes committed by a sovereign state« bewältigt, wie die Richter »the uncertainties of ›political justice‹«24 im Fall Eichmann meistern. Die neue Art von Verbrechen und der neue Verbrechertypus waren somit die besonderen Herausforderungen, die das Gericht, nach Arendt mit unzureichendem Instrumentarium ausgestattet, zu bewältigen hatte.

      Einen klaren Begriff vom radikal Bösen hatte Arendt nach Auschwitz nicht bilden können. Ob es ontologisch oder anthropologisch zu deuten war, blieb in den 1950er Jahren offen.25 Da sie aber nach Auschwitz viele Jahre lang »about the nature of evil«26 nachgedacht hatte, wollte sie in Jerusalem, mit Eichmann konfrontiert, ihre Denkergebnisse auf den Prüfstand stellen. Über ihre für ihr Denken und ihr Leben so überaus folgenschwere Entscheidung, zur Prozessbeobachtung zu fahren, schrieb sie im Rückblick: »[…] the wish to expose myself – not to the deeds, which, after all, were well known, but to the evildoer himself – probably was the most powerful motive in my decision to go to Jerusalem«.27

      Ebenso wichtig wie Arendts hier nur kurz skizzierten Grundannahmen ist die Entstehungsgeschichte des Eichmann-Buches. Sie lässt sich anhand ihrer Korrespondenz gut rekonstruieren. Die Genese des Prozessberichts erhellt auch seine Form und seinen Inhalt.

       Arendts Versuchung

      Gut einen Monat nach der Mitteilung von Premierminister David Ben Gurion in der Knesset Ende Mai 1960, Eichmann befinde sich in israelischem Gewahrsam1 und werde vor Gericht gestellt, schrieb Arendt an ihre Freundin Mary McCarthy, sie »spiele so halb mit dem Gedanken«, als Berichterstatterin nach Jerusalem zu gehen, und sprach von der »Versuchung«, die sie empfinde.2 Sie wandte sich an die Redaktion des auflagenstarken und finanzkräftigen Wochenmagazins The New Yorker, »eine in Amerika sehr angesehene Zeitschrift« (EJ, S. 12). In dem Hochglanzmagazin hatte sie bis dahin nicht publiziert.3 Die Tatsache aber, dass der New Yorker gelegentlich fundierte, gut recherchierte Reportagen veröffentlicht hatte, brachte Arendt auf die Idee, der Redaktion zu schreiben. Eine Rolle spielte fraglos auch der Umstand, dass die Zeitschrift in der Lage war, Arendts Aufenthalt in Jerusalem zu finanzieren.

      Die Leitung des New Yorker war mit Arendts Vorhaben einverstanden. McCarthy teilte sie mit: »Ich habe entschieden, daß ich beim Eichmann-Prozeß dabei sein möchte, und an den New Yorker geschrieben. (Nur drei Zeilen, nichts Ausgearbeitetes.)« Der Herausgeber William Shawn habe sie angerufen und »schien einverstanden, daß ich für sie fahre – mit der Vereinbarung, daß er, was immer ich vielleicht produziere, nicht drucken muß, daß sie aber meine Kosten übernehmen oder zumindest den größeren Teil davon. Das paßt mir gut.«4 Im Brief an Kurt Blumenfeld heißt es im Oktober 1960: »Der New Yorker will es mit mir versuchen, d. h. mir meine Spesen zahlen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß was ich schreibe für das Blatt doch nicht geeignet ist. Aber wir hoffen – nämlich New Yorker und ich –, es könnte klappen.«5 Die in Kritiken wiederholt vorgebrachte Meinung, Arendt sei vom New Yorker beauftragt worden, ist mithin unzutreffend. Gänzlich abwegig ist auch die Behauptung, das Magazin habe Arendt Vorgaben bezüglich ihrer Schreibweise und der Darstellungsform des Reports gemacht.

      Durchaus bewusst war Arendt, mit der beabsichtigten Prozessberichterstattung ein Wagnis einzugehen. Doch die wiederholt hervorgehobene »Versuchung«6 war zu groß. Wie ambivalent sie ihrem Vorhaben gleichwohl gegenüberstand, geht aus ihrer Korrespondenz hervor: Einerseits graute ihr »vor der ganzen Sache«7, andererseits schrieb sie von der recht frivol anmutenden Absicht, sich »auf dem Eichmann-Prozess zu ›amuesieren‹«.8 Auch gestand sie ein, »absolut – und vielleicht wie vom Teufel geritten – zum Eichmannprozess nach Israel«9 zu wollen. Nürnberg, den Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, und die zwölf Nachfolgeverfahren vor amerikanischen Militärgerichten (1946/49) hatte sie bedauerlicherweise verpasst. Sie hatte »diese Leute nie leibhaftig gesehen«.10 Dezember 1960 schrieb sie an Jaspers, sie wolle Eichmann, dieses »Unheil in seiner ganzen unheimlichen Nichtigkeit in der Realität […] besehen«, denn sie würde es sich »nie verziehen haben, nicht zu fahren«.11

      Auf die Fragen eines Journalisten nannte Arendt im Rückblick (September 1963) einige Gründe für ihre Reise nach Jerusalem. Sie habe unbedingt »one of the chief culprits with my own eyes as he appeared in the flesh«12 sehen wollen. Arendt interessierte der Fall Eichmann, weil es in einem Gerichtsverfahren um den Angeklagten als Person und ihre individuelle Schuld und Verantwortung gehen musste. In Arendts Antwort heißt es weiter: »It is the great advantage of court procedure that it inevitably confronts you with the person and personal guilt, with individual motivation and decisions, with particulars, which in another context, the context of theory, are not relevant.« Und: »In other words, I wanted to know: Who was Eichmann? What were his deeds, not insofar as his crimes were part and parcel of the Nazi system, but insofar as he was a free agent?«13

      In einem Mitte 1963 geschriebenen Brief meinte sie: »Warum ich dieses Buch geschrieben habe[,] ist schwer zu beantworten. Ich wollte mir einen der Hauptbeteiligten ganz aus der Nähe begucken; hatte aber auch das Gefühl, dass ich bei diesem Prozess, gerade weil er von Juden gemacht wurde und ich ja schliesslich Jüdin bin, unbedingt dabei sein musste.«14

      Der Jerusalemer Prozess bot Arendt die Möglichkeit, das nach 1945 Versäumte nachzuholen. Zudem glaubte sie noch im Jahr 1960 in dem Angeklagten eine wichtige, eine entscheidende Figur des NS-Vernichtungsapparats auf der Anklagebank beobachten und erleben zu können.15 So schrieb sie: »When I decided to go to Jerusalem, I myself had been under the impression that he had been much more important than he actually was.«16 In ihrer Besprechung des Buches von Léon Poliakov hatte sie in Übereinstimmung mit dem Autor 1952 dargelegt, Eichmann sei »the organizer of the deportations of Jews from all parts of Europe«17 gewesen. Entsprechend enttäuscht war sie daher gewesen, als sie einem verschnupften, recht unscheinbaren Angeklagten im Glaskasten begegnete. Im Gespräch mit Joachim Fest spricht sie sogar davon, sie sei ob der so wenig außergewöhnlichen Erscheinung Eichmanns »sehr schockiert«18 gewesen.

      Eine Prozessreporterin im herkömmlichen Sinne, mit deskriptiven Darstellungen der einzelnen Verhandlungstage, wollte und konnte Arendt natürlich nicht sein. Dennoch betonte sie, einzig als »bescheidener Berichterstatter«19 fungieren zu wollen. Von vornherein war klar, dass sie in Jerusalem nicht schreiben20 und ihr Aufenthalt höchstens drei21 bis vier Wochen22 dauern werde, gleichviel wie lange sich der Prozess hinziehen würde. Auch der Umfang ihres Prozessberichts war vollkommen offen. In einem Brief an Jaspers vom Februar 1961 hob sie nochmals ihre vom Magazin eingeräumten Freiheiten hervor: »Ich habe« seitens der Redaktion des New Yorker »ausgezeichnete Bedingungen, kann schreiben so viel oder so wenig wie ich will, und vor allem kann abliefern, wann immer ich fertig bin«.23

      Der väterliche Lehrer und Freund bewies ein gutes Gespür, als er warnend meinte, der Prozess werde Arendt »keine Freude machen«. Das Jerusalemer Verfahren könne »eigentlich gar nicht gut gehen« und er fürchte ihre Kritik. Weitsichtig und zugleich vergeblich riet der in Basel lebende Philosoph der streitbaren Autorin, sie solle ihre wohl unvermeidliche Prozess-Kritik »möglichst weitgehend für sich behalten«.24 Mit seinen »Bedenken«25 sollte Jaspers Recht behalten.26

      Zur Entstehungsgeschichte ihres Buches ist gleichfalls wichtig, dass Arendt über den

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