Exit Covid!. Hubert Niedermayr
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Diese Interessensabwägung hat individuelle und allgemeine Interessen zu berücksichtigen. Die Letzteren überwiegen hier die möglichen der Einzelperson deutlich. Der Schutz schutzbedürftiger Personen (Risikogruppen und solche, für die keine Impfempfehlung oder -zulassung gilt) wiegt schwerer. Eine Impfpflicht ist daher rechtlich nicht nur möglich, sondern in der vorliegenden Ausnahmesituation sogar notwendig.
Aber wie verhält es sich auf moralisch-ethischer Ebene? In die Beurteilung auch dieser Fragestellung fließen Elemente mit ein, die deutlich über bloß individuelle Interessen hinausreichen. Wir alle haben unsere persönliche Meinung, ob wir grundsätzlich Impfungen an uns zulassen wollen oder nicht. Manche sind dazu sofort bereit, wenn ihnen der Nutzen plausibel erscheint. Early adopters gibt es auch im Impfbereich, wie die teilweise stürmische Nachfrage nach den neuartigen mRNA-Vakzinen zeigt. Andere wollen sich auf gar keinen Fall impfen lassen und befürchten nachteilige Auswirkungen auf den eigenen Körper. Wieder andere – ein Phänomen, das uns gerade nach den ersten Wellen von Covid-19 zu begleiten scheint – ziehen zurück oder verweigern sich; es sind doch genügend andere geimpft. Warum solle man, erfolgreiche/r Trittbrettfahrer*in, selbst ins mögliche Risiko gehen?
Ich will zunächst die wesentlichen ethischen Aspekte präsentieren, die in dieser Fragestellung mitschwingen. Immanuel Kant hat vor gut 200 Jahren die Pflichtenethik etabliert, die unserem mitteleuropäisch-neuzeitlichen Verständnis noch immer zugrunde liegt. Pflichtenethik heißt diese deswegen, weil sie Pflichten des Individuums festlegt. Kant folgert dies unmittelbar aus dem Begriff der Freiheit: Negative Freiheit (von äußeren Beschränkungen) ist die Basis, als deren positive Seite muss sich der Mensch jedoch selbst Beschränkungen auferlegen, um sich seinen Fähigkeiten, seinem Auftrag und dem Funktionieren der Gesellschaft würdig zu erweisen.
Etwas später haben Jeremy Bentham und John Stuart Mill auf der britischen Insel den Grundstein für den Konsequentialismus gelegt, der den anglo-amerikanischen Bereich bis heute dominiert. Dieser fragt nach dem Nutzen: Welche Handlung verspricht welchen Nutzen? Gut ist ein Verhalten dann, wenn es den Gesamtnutzen maximiert. Maximaler Nutzen für die maximale Personenanzahl entscheidet, so lautet hier die Devise.
Diese beiden Varianten bestimmen noch heute die Diskussion, auch wenn sie nicht ausdrücklich als Triebfedern benannt werden. Daneben sind die ethischen Theorien der Tugendethik nach Aristoteles, die dieser schon vor rund 2500 Jahren entwickelt hat (unsere menschlichen Tugenden, die wir uns erarbeitet haben und die wir Tag für Tag durch unser Handeln bestätigen müssen, haben unseren Charakter geprägt, der uns richtige Entscheidungen zu treffen erlaubt) und medizinethische Theorien vor allem nach Tom Beauchamp und James Childress (mit den Elementen Autonomie, Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit) von Bedeutung.
Ich werde zum Ergebnis gelangen, dass aus moralischer Sicht eine Impfung nicht nur als sinnvoll erachtet werden sollte, sondern ethisch sogar erforderlich ist. Die Begründung läuft zu weiten Teilen analog der zuvor angeschnittenen rechtlichen, trifft aber auf eine breitere Basis. Das Recht sagt mir: Was muss ich tun? Die Moral gibt vor: Was soll ich tun? Diese Sollensanforderung ist umfassender als die rechtliche Verpflichtung, mit anderen Worten: Das Recht gibt jenes Verhalten vor, das ich setzen muss, um reibungslos mit anderen Menschen leben zu können. Recht ist daher mehr oder weniger die Verkörperung eines ethischen Minimums. Um richtige Handlungen im Sinne von moralisch guten zu setzen, reicht es aber nicht aus, sich bloß an die Rechtsordnung zu halten. Ein guter Mensch ist nicht nur rechtsbewusst, sondern rechtschaffen. Er hat eine moralisch wertvolle Einstellung und fügt sich nicht bloß der Autorität.
Wir werden die verschiedenen moralischen Aspekte abwägen. Wir werden nach Kant fragen, ob eine Impfpflicht in dieser pandemischen Ausnahmesituation gerechtfertigt, ja sogar geboten ist; mit dem Konsequentialismus, ob eine solche oder Impffreiheit den größten Nutzen für die größte Zahl bringt? Ob nach der modernen Medizinethik die Aspekte der Fürsorge für andere schutzbedürftige Personen, die auf andere Weise nicht geschützt werden können, der Gerechtigkeit (als Blindheit gegenüber materiellen Voraussetzungen) und der Schadensvermeidung nicht die individuelle Selbstbestimmung, die sich im Einzelfall gegen die Impfung entscheiden könnte, überwiegen?
Auch hier wird die Antwort wie schon vorweggenommen eindeutig ausfallen. Die herrschenden ethischen Theorien befürworten in der derzeitigen fortgeschrittenen Infektionsphase mangels anderer zumutbarer Alternativen eine Impf- plicht.
Dieser rechtliche und ethische Auftrag muss allerdings – noch – nicht zwangsläufig bedeuten, mit körperlicher Gewalt die Impfung einer dazu nicht bereiten Person vorzunehmen. In Extremfällen kann dies gerechtfertigt sein, jedoch sicherlich nicht als Regelfall. Ich werde dies eingehend diskutieren und zeigen, dass ein sanfter Druck auf verweigernde Kreise das erste Mittel der Wahl sein wird. Erst nach dessen Verpuffen, das wir schon weitgehend beobachten konnten, wird sich die Frage stellen, auf welche Art und Weise eine derartige Pflicht durchgesetzt werden kann. Immer ist jedoch der Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Dieses Plädoyer will nicht polemisch sein. Ich muss zugestehen: Es fällt mir manchmal schwer, gegen absurde Behauptungen nicht zynisch zu werden. Auch ich bin ein Mensch, der beruflich – als Rechtsanwalt – mit dem Pandemiegeschehen auf die eine oder andere Art in Kontakt gekommen ist; viel einprägsamer ist allerdings noch meine persönliche Verstrickung. Ich habe Todesopfer im Bekannten- und Familienkreis zu beklagen.
Dieses Bewusstsein ist es auch, das mich antreibt. Es hat mich dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Ich sehe es als meinen persönlichen Auftrag, einer leider weit verbreiteten Indifferenz entgegenzutreten. Wir alle leben nun schon monatelang mit dramatischen Einschränkungen, teilweise sind wir in unserer finanziellen Existenz bedroht. Das ist mir nur zu bewusst. Keine/r von uns hat sich die Pandemie herbeigesehnt, auch nicht deren Folgen, die wir als zuvor unvorstellbaren Eingriff in unsere Rechte wahrnehmen. Dennoch ersuche ich zu berücksichtigen: Es ist die unvergleichliche Gesundheitskrise, die uns den Boden unter den Füßen wegzieht – und die leider scharfe Eindämmungsmaßnahmen erfordert.
Unsere Höchstgerichte sind tagtäglich damit beschäftigt, die einzelnen politischen Maßnahmen auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Es wäre sehr verwunderlich, wenn manche nicht tatsächlich als unverhältnismäßig aufgehoben werden würden (was ja auch schon geschehen ist). Das ist auch gut so – gerade in Zeiten des größten Drucks passieren Fehler, die aufgezeigt und korrigiert werden müssen. Die wohl schlimmsten Fehler macht aber derjenige, der gar nichts tut. Wie viele Todesopfer hätte Passivität gefordert? Ein Blick nach Brasilien, in die USA unter Trump, immer wieder nach Großbritannien und anfangs Schweden macht uns sicher, dass dies keine menschenwürdige Alternative gewesen sein würde.
Ich werde daher die Argumente für und gegen eine Impfpflicht ihrem wesentlichen Inhalt nach darstellen und fachlich gegeneinander abwägen. Ich werde dazu die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse heranziehen. Zur besseren Lesbarkeit werde ich im Text selbst die diesbezüglichen Quellen, vor allem Studien, nicht vollumfänglich zitieren. Bei Interesse ersuche ich Sie, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, die Quellennachweise zu verfolgen. Ich habe im Anhang jeweils die Quelle der herangezogenen Information benannt. Hier habe ich mich ausschließlich auf vertrauenswürdige, ja soweit möglich gesicherte, verlassen.
Hier eine ausdrückliche Einschränkung meinerseits: Verschiedenste Thesen, die allgemein üblicherweise unter dem Siegel der Verschwörungsmythen firmieren, will ich nicht präsentieren. Dieses Buch steht im Zeichen von Vernunft und Verantwortung. Es wäre aus meiner Sicht höchst unvernünftig wie unverantwortlich, derartige teilweise groteske Quellen im Sinne einer false balance darzustellen. YouTube, Instagram und