Christlich-soziale Signaturen. Группа авторов
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Christlich-soziale Signaturen - Группа авторов страница 15
Es ist andererseits trivial festzustellen, dass man nicht nur durch seine genetische Erbschaft, sondern auch durch Erziehung, Herkunft und Milieu geprägt ist. Daraus ergeben sich Grenzen der Zurechnungsmöglichkeit. Gleichwohl kann nicht jedes Handeln durch die Umstände gerechtfertigt oder entschuldigt werden, zumal unter ähnlich beschränkten Verhältnissen andere Individuen erfolgreicher oder anständiger geworden sind. Es gibt in einer soziologistisch ideologisierten Gesellschaft einen Trend zur billigen Exkulpation: Wenn man aus der Schule fliegt, ist das bildungsferne Elternhaus schuld; wenn man zu viel trinkt, musste man dem Druck bei gesellschaftlichen Anlässen nachgeben; wenn man sich überschuldet, wurde man Opfer des generellen Konsumismus oder Modewahnsinns; die Person ist niemals schuld. Aber natürlich setzt Eigenverantwortung Kompetenzen voraus, die nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts kommen: Verantwortung braucht Verantwortungsfähigkeit. Trivialerweise beginnen solche Fähigkeiten mit Information, Bildung und Reflexion.
(2): Die Zumutung individueller Verantwortlichkeit hat auch in Rechnung zu stellen, dass gerade die Insassen einer postmodern-individualistischen Gesellschaft unermüdlich den Anspruch erheben, ihr eigenes Selbst finden, gestalten und ausagieren zu wollen (Keupp 1999; Berger/Hitzler 2010). Bei allen Übertreibungen und Illusionen steckt in dieser Forderung ein ausgeprägter Gestaltbarkeitsanspruch. Man fühlt sich nicht nur als willenloses Produkt der Verhältnisse, man hat einen Teil seiner Identität selbst ausformuliert und entwickelt; konsequenterweise ist man dann zumindest teilweise für die Person, die man geworden ist, verantwortlich. Was dieses Selbst tut, ist deshalb auch unter dem Aspekt der jeweils individuellen Verantwortung zu sehen – auch wenn es Milderungsgründe für übles Verhalten und Minderungsgründe für Leistungserfolge geben mag. Ein triviales Beispiel ist die Eigenverantwortung für den eigenen Körper – nicht ganz inaktuell in Anbetracht einer Verfettungsepidemie, die sich durch die modernen und sich modernisierenden Länder zieht. Das Argument, dass man den wohlgefüllten Tischen reicher Länder nicht Widerstand zu leisten vermag, ist eine Art von Selbstdesavouierung. Norbert Bolz bringt ein bürgerliches Prinzip ins Spiel: „Freiheit impliziert Selbstdisziplin. Frei ist ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl aus Selbstdisziplin erwächst. Kein Selbst ohne Selbstdisziplin.“ (Bolz 2010, S. 75).
Eigenverantwortung respektiert Menschen und ihre Leistungen
Eigenverantwortung bedeutet: Den Menschen ist etwas zuzutrauen. Eine christlich-soziale Perspektive setzt an bei der Respektierung des Menschen und seiner Leistungen; bei der Anerkennung des Umstands, dass der einzelne Mensch von Bedeutung ist und in Gemeinschaft lebt. Oft wird diese Einschätzung mit dem Begriff der Personalität (Personenprinzip, Personalismus) verbunden: den Menschen in seinen Fähigkeiten erkennen, ein grundsätzliches Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit haben, den Menschen aber in der Folge auch verantwortlich machen. Gegenstück wäre die umfassende Entlastung: eine paternalistisch-fürsorgliche Staatsdiktatur, die den Menschen entmündigt. Es ist die „Person“, die im letzteren Fall unter die Räder gerät. Es gilt bei Erwachsenen dasselbe wie in der Kindererziehung: Wenn man den Kindern nichts zutraut, werden sie keine Fähigkeiten entwickeln können.
Eigenverantwortung ist deshalb eine leistungsfreundliche Geisteshaltung. Diese Wertschätzung von Leistung hat nichts damit zu tun, dass Menschen an die Burn-out-Grenze getrieben werden; ganz im Gegenteil richtet sich eine solche Haltung zunächst einmal auf sich selbst, auf die eigene Person. Sie meint: nicht allzu bequem sein – beim Denken, beim Arbeiten, beim Umgang mit anderen Menschen. Denn Selbstverwirklichung ohne Sinn und Verstand – das wäre Friedrich Nietzsches „letzter Mensch“: das bloße (bequeme) Lebenwollen; eine Unterschätzung der Möglichkeiten des Menschen. Das Pensionistenideal. Freiwillige Knechtschaft.
Ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler hat einmal von einer „solidarischen Hochleistungsgesellschaft“ gesprochen, und er hat damit die Balance zwischen solidarischer Unterstützung durch die Gemeinschaft und berechtigten Anforderungen an den Einzelnen gemeint – es ist ihm freilich in seiner (sozialdemokratischen) Partei nicht gut bekommen, dass er „Leistung“ verlangt hat.6 Es gibt ideologische Milieus, die eine Leistungsforderung per se als Unanständigkeit und Repression betrachten.7
Eigenverantwortung wird reduziert durch staatliche Inpflichtnahme
Menschen haben unterschiedliche Kompetenzen, sie können sich auf unterschiedliche Ressourcen stützen, sie kommen aus unterschiedlichen Milieus, sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, sie sind unterschiedlichen Risiken ausgesetzt, sie geraten in unterschiedliche Situationen. Eigenverantwortung ist begrenzt durch das, was den Menschen jeweils zumutbar und durch sie in der Lebenspraxis leistbar ist. Das Komplement zur Eigenverantwortung ist die (notwendige) Verantwortung der Gemeinschaft. Damit liegt der Bezug zur Solidarität auf der Hand.
Eine christlich-soziale Haltung ist mit einer Anerkennung der dynamischen Errungenschaften einer europäisch-marktwirtschaftlichen Ordnung verbunden, aber sie geht auf Distanz zu den Auswüchsen exzessiver Wirtschaftsfreiheit. Die Menschheitsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Gewalt, sondern auch eine Geschichte der Ausbeutung, und die schlecht gestalteten globalisiert-finanzialisierten Märkte der späten Moderne (Wiemeyer 2010) neigen gleichfalls zur maximalen „Abschöpfung“. Das zeigen die Statistiken über Polarisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Seit dem Entstehen der Industriegesellschaft geht es um das stete Ringen, wie unter jeweils aktuellen Umständen der Kapitalismus domestiziert werden kann, um seine kreativen und wohlstandstreibenden Kräfte zu nutzen, ohne entwürdigende Folgen, Unverschämtheiten und Lähmungen ausufern zu lassen. Seit langer Zeit nennt man das Modell „Soziale Marktwirtschaft“ – eine Rahmenordnung, die einerseits die dynamischen Kräfte eines Marktes nutzt, ermöglicht, fördert, und andererseits ein Leben in Sicherheit und Würde für alle Teilnehmer gewährleistet (Issing 1981; Müller-Armack 1976; Rüstow 1960).
Man kann die Eigenverantwortung untertreiben und übertreiben. (a) Man untertreibt sie, wenn man die vollständige Daseinsvorsorge als Aufgabe des Staates festlegt – Etatismus, Paternalismus, wohlfahrtsstaatlicher Autoritarismus; Betreuungsmentalität; Unmündigmachung. (b) Man übertreibt sie, wenn man unter Bezugnahme auf pauschale Freiheitspostulate oder vermeintliche Leistungsträgerschaften Marktergebnisse nicht korrigieren will – dann befinden wir uns beim Brutalkapitalismus, nicht beim schlanken, sondern beim magersüchtigen Staat, bei der Privatisierung von gemeinschaftsnotwendiger Fürsorge. Manche nennen es „Neoliberalismus“. Im Streit der Weltsichten werden Notlagen dann als bloße Ergebnisse von Faulheit oder Disziplinmangel angesehen – Dispositionen, die im Einzelfall natürlich tatsächlich vorkommen können und deren Leugnung wiederum unrealistisch-ideologisch wäre.
Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass man die Kräfte der Menschen, vor allem ihre kreativen Fähigkeiten, nach Tunlichkeit wirken lässt, dass man aber die Risiken, die sich mit der Natur des Menschen und mit den Gefährdungen durch das System verbinden, abfedert und Notlagen beseitigt (Kaufmann 2004, 2019). Soziale Marktwirtschaft bedeutet also nicht nur die Beschreibung eines Regelsystems, sondern verweist auf normative Vorstellungen. Die europäische Ausprägung des Sozialstaates (oder Wohlfahrtsstaates) ist eine genuine Innovation (Becker 1994; Herder-Dorneich 1982; Kaelble/Schmid 2004; Strasser 1983). Wenn Vergleiche