Bürgergesellschaft heute. Группа авторов
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Das Gefühl der materiellen Depravierung verband sich in den ersten Nachkriegsjahren mit der Erfahrung gesellschaftlicher Machtlosigkeit, angesichts der Dominanz der Linken auf den Straßen und im politischen Prozess: „Gestützt auf die Straße und die Mittel des gewerkschaftlichen Kampfes, sicher der aus ihren Reihen geworbenen Bundeswehr, kann sich die Sozialdemokratie den ungeheuren Luxus gestatten, alle Verantwortung den bürgerlichen Parteien zu überlassen, da sie in Wirklichkeit auch unter einem bürgerlichen Kabinett die leitende Vormacht bleibt. Die Stützen des alten Regimes aber, Bürger und Bauer, räumen verschüchtert das Feld, irre geworden an der eigenen Bestimmung [...]“29.
Die Erfahrung anhaltender materieller Schlechterstellung ging bei nicht wenigen „Bürgerlichen“ auch nach der Übernahme der Regierung durch „bürgerliche“ Koalitionen weiter. So erzwang die Genfer Sanierung von 1922 einen weitgehenden Beamtenabbau. Man nannte eine runde Gesamtziffer von 100.000 „abzubauenden“ öffentlich Bediensteten. Bis Ende 1925 wurden tatsächlich 83.386 Staatsangestellte entlassen oder in Pension geschickt, dazu kamen noch etwas mehr als 10.000 Südbahn-Bedienstete. Die Gesamtzahl erreichte etwa 50 Prozent der noch Aktiven, d. h., dass ca. ein Drittel aller im öffentlichen Dienst Stehenden von dieser Maßnahme getroffen wurde. In den folgenden Jahren reduzierte sich die Zahl der öffentlich Bediensteten nur langsam, um als Folge des Zusammenbruchs der Creditanstalt und der enormen staatlichen Kosten für deren Sanierung neuerdings stärker abzunehmen: Waren in Hoheitsverwaltung, Bundesbetrieben und Bundesbahn 1926 etwa 200.000 Menschen beschäftigt, so waren es 1933 nur mehr 166.000 (später stieg diese Zahl wieder leicht, aber nur wegen der höheren Zahl von eingestellten Soldaten und Polizisten).30 Ähnlich wirkten sich die seit der Stabilisierungskrise von 1924 aufeinander folgenden Bankenzusammenbrüche aus. So zählte der Reichsverein der Bank- und Sparkassenbeamten 1924 noch 24.500 Mitglieder, 1926 aber nur mehr knapp 11.000 und 1931 nur mehr 7.700.31
Die von Monarchiezerfall, Inflation, Mieterschutzgesetz, Budgetsanierung und Bankzusammenbrüchen am stärksten betroffenen bürgerlichen Gruppierungen lebten zu einem hohen Prozentsatz in Wien. Dass „Republik“ für diese verarmten und statusverunsicherten Bürgerlichen des positiven Beiklanges entbehrte, den das Wort für uns heute allgemein hat, ist zwar unerfreulich, aber nicht unverständlich. Weniger verständlich ist es, dass die „bürgerlichen“ Parteien und Regierungen so wenig Einsatz für die Interessen dieser, ihrer Klientel zeigten. Die radikalen Bezugskürzungen, die man im Zuge der CA-Krise deren Bediensteten zugemutet hat, veranlassten selbst Otto Bauer im Hauptausschuss des Nationalrates zu der Wortmeldung, er habe natürlich nichts gegen solche Bezugskürzungen, er möchte sich aber doch die Bemerkung erlauben, dass die bürgerlichen Parteien durch ein solches Vorgehen den Ast absägen, auf dem sie sitzen.32 Vermutlich war jenes Vorgehen Ausdruck gewisser antisemitischer Strömungen bei den Christlichsozialen und Großdeutschen (Bankdirektoren waren vielfach Juden) und im Zusammenhang damit wohl auch der Versuch, durch Schuldzuschreibungen und massives Vorgehen gegen Bankdirektoren und -beamte Popularität zu gewinnen.33
Die Erinnerungen Alexander Spitzmüllers (1862–1953) bieten für dieses Verhalten insbesondere der Christlichsozialen breites Material: Der ehemalige Staatsbeamte, dann Bankdirektor (bei der Creditanstalt), österreichischer Handelsminister und letzter gemeinsamer Finanzminister der österreichisch-ungarischen Monarchie, war trotz seiner eindeutig katholischen Haltung für die Christlichsozialen immer ein Außenseiter geblieben. Man hat ihm weder für sein Bemühen als Gouverneur der Österreichisch-Ungarischen Bank (bis zu deren Liquidierung 1923) noch als Leiter der Creditanstalt während der Krise 1931/32 entsprechend gedankt, ihn im Gegenteil bei der Durchführung dieser mühevollen Geschäfte auch noch nach Kräften behindert.34 Spitzmüllers Memoiren sind kein Einzelfall. Die Erinnerungen von Hans Loewenfeld-Russ, der als höchst anerkannter Ernährungsfachmann nicht nur der Monarchie, sondern auch noch der jungen Republik in unveränderter Loyalität zur Verfügung stand, beschreiben die Blockade jeder weiteren öffentlichen Karriere seitens der christlichsozialen Partei, nachdem er dort als Folge einer Äußerung im Kabinett als Sympathisant der Sozialdemokraten enttarnt schien.35
Unternehmerkreise hielten daher schon früh Ausschau nach Alternativen. Sie unterstützten die Heimwehren als militärische Kraft gegen den Republikanischen Schutzbund der Sozialdemokratie. Besonders die Leitung der „Alpine“ in der Steiermark forcierte die Heimwehren. Hier wurde von der Firmenleitung zur Schwächung der sozialdemokratischen Gewerkschaften auch eine „gelbe“ Heimwehrgewerkschaft gefördert. Bürgerliche Frustration äußert sich besonders deutlich im Wiener Wahlergebnis des Jahres 1932, als bei den Gemeinde- bzw. Landtagswahlen die Christlichsozialen herbe Verluste zugunsten der Nationalsozialisten erlitten.
Ende des Bürgertums?
Trotz der oft beschworenen Verluste und Einschnitte – die in jeder Erinnerung vorkommen – bedeutete das Ende der Monarchie wohl doch (noch) nicht das Ende der Bürgerwelt. Dieses kam erst 1938, als das jüdische Bürgertum (oder, genauer, das Bürgertum jüdischer Abstammung, denn hier ging es ja nicht um religiöse Bekenntnisse), aller seiner Vermögenswerte beraubt wurde.36 Die Arisierungsakten, so Peter Melichar einmal gesprächsweise, enthielten das größte geschlossene Material zur Kulturgeschichte des (so genannten „jüdischen“) Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Zweifellos waren die „Arisierungen“ ein viel stärkerer Bruch in den immerhin bis jetzt zu verfolgenden Kontinuitäten der bürgerlichen Welt, die durch Flucht und (zuletzt) Deportation nach Theresienstadt oder Auschwitz endgültig vernichtet wurde.
Man wird daher die großen Brüche von 1918, 1938 und 1945 als Etappen auf dem Weg in die nachbürgerliche Epoche interpretieren können – zuerst verlor das österreichische Bürgertum große Teile seiner ökonomischen Macht, dann, ab 1938, verloren große Teile dieses Bürgertums (sein großer aus dem Judentum gekommener Anteil) Besitz, Heimat und oft das Leben. Und 1945 erlebte das ehedem großdeutsch-liberale Bürgertum eine ähnliche, wenngleich nicht so katastrophale Deprivation.
Nehmen wir also an, dass jene bürgerlichen Schichten, die im 19. Jahrhundert die „bürgerliche Gesellschaft“ dominierten, 1918/1938/1945 ihre Existenzgrundlagen weitgehend einbüßten. Brachte das Ende von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus eine Renaissance des Bürgertums mit sich? Es gibt zwar Kontinuitäten in nicht wenigen Familien, auch in Unternehmungen, aber gerade Familienunternehmen neigen dazu, nach einigen Generationen nicht mehr als solche weitergeführt werden zu können. Als eine ökonomisch, geistig und kulturell führende Klasse, wie es das deutsch-liberale Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, lässt sich das Bürgertum nicht rekonstruieren.
Wir kehren zurück zu den eingangs getroffenen Feststellungen über Bürger- bzw. Zivilgesellschaft. Die Fragen lauten, stark verkürzt: Wie viel an traditioneller Bürgerlichkeit benötigt eine demokratische, staatsbürgerliche Gesellschaft freier Bürger zu ihrem gedeihlichen Funktionieren? War die große Krise von 1918–1945 vielleicht auch deshalb so katastrophal,