Bürgergesellschaft heute. Группа авторов

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und die Auflösung des Reichstages (!) zu überbringen hatte. Nur wenige Tage später reiste er mit anderen Gemeinderäten nach Italien, um Radetzky das Ehrenbürgerdiplom der Stadt Wien auf den oberitalienischen Kriegsschauplatz nachzubringen. Das Bündnis von Großbourgeoisie und Armee wurde damit eindrucksvoll besiegelt.

      Die kurze Herrschaft des liberalen Bürgertums

      Zwar herrschte das „deutsche“ Bürgertum in Österreich zunächst nur in Gestalt der Bürokratie.11 Mit der Zurücknahme „bürgerlicher“ Freiheiten erhielt aber das unternehmerische Großbürgertum erhebliche Freiräume. Die schwierige finanzielle Lage des Staates steigerte noch die Einflussmöglichkeiten der Finanzbourgeoisie, denn der Staat brauchte ungeheuer viel Geld für den Aufbau des neuen, staatlichen Gerichts- und Verwaltungssystems mit zahllosen neuen Beamten. Gleichzeitig blieben die Ausgaben für Armee und die (neue) Gendarmerie hoch.12 Und sie stiegen noch, als im Rahmen des Krimkrieges Österreich die rumänischen Fürstentümer besetzte und eine Armee in Galizien stationierte. Diese Politik führte zur Dauerfeindschaft mit Russland, ohne die liberalen Westmächte (England, Frankreich) als Freunde zu gewinnen. Schließlich wurde nach der Niederlage bei Solferino 1859 dem Kaiser bedeutet, dass es neue Kredite für den hoch verschuldeten Staat nur mit einer parlamentarischen Vertretung, zumindest für eine Kontrolle der Staatsfinanzen, geben würde. So erzwang man vom unwilligen Kaiser die Einrichtung von Vertretungskörpern, von Landtagen und eines gesamtstaatlichen „Reichsrats“, die in erster Linie als Kontrollore der Steuerzahler gegenüber der undurchsichtigen Ausgabenpolitik des Staates gedacht waren.

      Das 1861 im Rahmen des „Februar-Patents“ erlassene Wahlrecht für Gemeinden und Landtage, aus denen dann erst die Vertreter im Reichsrat gewählt wurden, war sehr deutlich auf die Interessen des Bürgertums zugeschnitten. Da es theoretisch in erster Linie um die Finanzkontrolle ging, wurde das Wahlrecht konsequent an die Steuerleistung gebunden: In den Gemeinden war jede Person wahlberechtigt, die eine direkte Steuer (Grund-, Gewerbe-, Hausklassen- oder Einkommensteuer) bezahlte. Für die Landtage waren allerdings nur die oberen zwei Drittel der Gemeindewähler bzw. in großen Städten nur Steuerzahler mit einer Steuerleistung von mehr als zehn Gulden pro Jahr wahlberechtigt. Zusätzlich wahlberechtigt waren Inhaber von Bildungspatenten: Lehrer, Professoren, Priester, Ärzte, Ingenieure, Advokaten, in den Küstengebieten auch Kapitäne. Gemeindevertretungen, Landtage und „Reichsrat“ sollten von „Besitz und Bildung“ beherrscht werden.

      Erst 1867 – nach der Niederlage von Königgrätz – erhielten diese Vertretungskörper mehr Aufgaben und alle Staatsbürger mit den fünf Staatsgrundgesetzen („Dezemberverfassung“) die vom liberalen Bürgertum schon lange geforderten Grundrechte, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die Trennung von Justiz und Verwaltung und eine klare Definition für die Positionen von Parlament und (kaiserlicher) Regierung. Jetzt wurde auch erstmals eine Regierung eingesetzt, die weitgehend aus Herren aus dem Bürgertum bestand – das „Bürgerministerium“. Sein Chef, der Ministerpräsident, war zum Ausgleich für soviel Bürgerlichkeit „Carlos“ Fürst Auersperg, der „erste Kavalier des Reiches“. Die bürgerlichen Minister leisteten in der Tat gute Arbeit. Erwähnt sei hier nur die Verabschiedung des Reichsvolksschulgesetzes, das der Unterrichtsminister Leopold Hasner Ritter von Arta (1818– 1891)1869 im Reichsrat eingebracht hatte. Die Vertretung des Bürgertums, der deutsche, zentralistische Liberalismus, entwickelte noch bis 1875 einige Lösungskompetenzen für Felder, die zukünftiges „zivilgesellschaftliches“ Engagement erleichtern sollten, etwa durch das Genossenschaftsgesetz (1873), das die 1867 errungene Vereinsfreiheit im Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit ergänzen sollte. Mit der Koalitionsfreiheit erleichterten die Liberalen auch die Selbstorganisation der Arbeiterschaft. Nach einigen konfessionellen Gesetzen war um 1875 ihre Gestaltungskraft erlahmt. Die Liberalen wurden zu Verteidigern der errungenen gesetzlichen und der erarbeiteten materiellen Möglichkeiten, aber sie verloren jetzt ihre Rolle als vorwärtstreibende Spitze der bürgerlichen Gesellschaft. Sie wurden tatsächlich konservativ.

      Die Schwäche des Bürgertums der Habsburgermonarchie

      Der Börsenkrach von 1873 und die anschließende langwierige Wirtschaftskrise erschütterten das Vertrauen in die angeblich so segensreichen Kräfte des freien Marktes ebenso wie das Vertrauen in die liberale Politik. Dazu kam schamlose Korruption in den Kreisen der liberalen Abgeordneten, die als Belohnung für die Verabschiedung von diversen Eisenbahngesetzen gleich mit Aktien der neuen Eisenbahngesellschaften ausgestattet wurden.13

      Die antiliberale Kritik bezeichnete die bürgerlichen Liberalen als Privilegienritter, die Bauern, Kleingewerbler und Arbeiter ausbeuteten und ihnen überdies noch ihre politischen Rechte verwehrten. Waren sie nicht Nutznießer dieses Staates, dessen obrigkeitliche Orientierung dem (von der Theorie her) so stark auf Selbständigkeit und die Freiheit der Person ausgerichteten Bürgertum in Wahrheit sehr zustatten kam, insofern als dieser Staat dem Bürgertum alles bereitstellte, was dieses brauchte – wie einen großen gemeinsamen Markt, Schutz des Eigentums und parlamentarische Budgetkontrolle? Diese Kritik verband sich mit antisemitischen Haltungen, die sowieso noch wegen der kirchlichen Verurteilung der Juden als „Christusmörder“ bei vielen Katholiken fortlebten. Im katholischen „Vaterland“ vom 20. Dezember 1871 werden die liberalen Wirtschaftsgesetze (Aufhebung der Zünfte, Gewerbefreiheit, Mobilisierung des bäuerlichen Besitzes, Aufhebung der „Wuchergesetze“ usw.) als Niederreißen „aller Schranken“, welche das „christliche Volk schützten“ zugunsten der Juden kritisiert: „Der Arbeiter- und Handwerkerstand wandert in die Fabrik, der Grundbesitz in die Hände, die Häuser in das Eigentum und das Vermögen der Völker in die Taschen der Juden […].“14

      Die Verteidigungsposition, die der bürgerliche Liberalismus ab etwa 1875 bezog, hing auch mit den Zahlenverhältnissen zusammen. Für die Zeit um 1870 hätte man mit den damals Wahlberechtigten in Städten und „Industrialorten“ wahrscheinlich den größten Teil des Bürgertums umschreiben können. Später wurde das, als Folge von Wahlrechtserweiterungen, immer weniger möglich. Nimmt man an, dass „Bürgerlichkeit“ ein gewisses Einkommen voraussetzte, dann ermöglicht die Statistik der 1896 eingeführten Personaleinkommensteuer eine erste Annäherung. Der Anteil der Steuerpflichtigen an allen Berufstätigen lag damals bei 6,5%. Sicher bürgerlich dürften jene etwa 33 Prozent der Steuerpflichtigen gewesen sein, die mehr als 2.400 Kronen Einkommen hatten, also etwa 300.000 Einkommensbezieher. Die bürgerlichen Schichten umfassten daher, bei Annahme einer durchschnittlichen bürgerlichen Haushaltsgröße von vier Personen mindestens 1,2 Millionen Menschen oder ca. 4,6 Prozent der im Jahre 1900 etwa 26 Millionen Gesamtbevölkerung des österreichischen Reichsteiles. Auf die Kleinheit der österreichischen Mittelschichten verwies auch der prominente liberale Politiker Ernst von Plener (1841–1923) während der Debatte um das allgemeine Wahlrecht 1905/06 – nach seinen Berechnungen waren in Österreich 3,4 Prozent, hingegen in Preußen 9 und in Sachsen sogar 13 Prozent der Bevölkerung einkommensteuerpflichtig.15

      Dieses Bild ändert sich, wenn man die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie („Zisleithanien“) mit dem Gebiet der Republik Österreich vergleicht. Das ist natürlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass nach dem Zerfall der Monarchie das wichtigste bürgerliche Zentrum, die Metropole Wien, auf ihrem Gebiet zu liegen kam.

      In Wien lebte um 1900 etwa ein Viertel aller Steuerpflichtigen, die ziemlich genau ein Drittel aller steuerpflichtigen Einkommen des alten Österreich verdienten. Noch deutlicher tritt die Dominanz Wiens bei den höheren Einkommensklassen hervor: Während Wien 1907 nur ein Viertel der Steuerträger in den unteren Klassen stellte, stieg dieser Anteil bei den „Reichen“ (mehr als 12.000 Kronen Jahreseinkommen) auf 45 Prozent (1906) bzw. fast 52 Prozent bei den sehr Wohlhabenden (über 40.000 Kronen Jahreseinkommen). Mehr als die Hälfte aller Spitzeneinkommen des alten Österreichs gelangten also in Wien zur Veranlagung!16

      Wenn man die relativ kleine Zahl der bürgerlichen Existenzen ins Auge fasst, dann wundert die relative Schwäche der bürgerlichen Klassen

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