Bürgergesellschaft heute. Группа авторов
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Demnach lassen sich individuelle Lebenskonzepte nicht bzw. kaum verallgemeinern, geschweige denn in einem einzigen Gesamtbild darstellen. Die – nicht gänzlich ironiefreie – Kritik von John Locke an der praktisch-politischen Philosophie der Antike lautet, dass sie dies dennoch versucht habe und so einen äußerst eingeschränkten Blickwinkel auf die Lebensführung des Menschen gehabt habe. Und so hält er fest: „Mit ebensolchem Recht hätte man darüber streiten können, ob Äpfel, Pflaumen oder Nüsse am besten schmeckten, und sich danach in Schulen teilen können“.20
(ii) Mündigkeit
Neben dem wachsenden Bewusstsein des Individuums in der Erkenntnis der Individualität kam spätestens im Zuge der Philosophie der Aufklärung die Notwendigkeit des mündigen Menschen hinzu. Anders als in der Philosophie der Antike nun explizit für alle Menschen. Immanuel Kant beantwortet in einem Text aus dem Jahr 1783 die Frage „Was ist Aufklärung?“ mit den folgenden Worten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“ 21
An dieser Stelle sieht sich der einzelne Mensch in selbstverantworterter Weise in der Pflicht. Kurz gesagt: Mündigkeit kann nicht verordnet werden sondern muss aus dem Menschen, dem Individuum heraus entwickelt werden. Und die zuvor in einem ersten Schritt angesprochene Individualisierung bzw. Subjektivierung des Menschen verlangt in einem zweiten Schritt nun nach der Mündigkeit des Einzelnen, die im Laufe der Geschichte der politischen Aufklärung insbesondere durch die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, das Recht auf Schuldbildung, Meinungsfreiheit, Solidarität, Gewaltentrennung etc. erreicht werden sollte. Und damit einhergehend auch die Selbstbestimmung des Individuums in Bezug auf die eigene Lebensführung innerhalb der rechtlichen Bestimmungen des modernen Staats. Doch bereits Kant war sich bewusst, dass der Weg hin zur Mündigkeit des Individuums kein einfacher ist – und er nennt hierfür auch etwaige Gründe: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen [...], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ 22
(iii) Gesellschaft
Insbesondere Individualität und Mündigkeit bilden aus politisch-philosophischer Perspektive – neben vielen anderen Aspekten – zwei Grundbausteine des modernen Verständnisses der Gesellschaft im Kontrast zur antiken politischen Gemeinschaft. Damit ist auch offenkundig, dass es sich bei dem Vergleich von Bürgergemeinschaft mit Bürgergesellschaft nicht bloß um ein semantisches Projekt handelt. Dieser Vergleich zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft wurde bereits in der Soziologie des 19. Jahrhunderts zum Thema gemacht. Somit ist diese Entwicklungsthese keineswegs neu. Der Historiker Henry Sumner Maine handelt 1861 in seiner Schrift Ancient Law über die Entwicklung der politischen Gemeinschaft der Antike hin zur modernen Gesellschaft als eine Entwicklung „from status to contract“. In dieser Betrachtung als Entwicklung von der aristotelischen Bestimmung des Menschen als von Natur aus in Gemeinschaft lebend hin zum modernen Staatsverständnis in der Darstellung des Kontraktualismus, der staatlichen Vertragstheorien, beginnend mit Thomas Hobbes, der selbst an der politischen Anthropologie des Aristoteles im Leviathan Kritik geäußert hat.
Auf Henry Sumner Maine aufbauend hat der Soziologe Ferdinand Tönnies in seiner 1887 veröffentlichen Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft diese beiden Ebenen in weiterer Form aus damaliger Perspektive soziologisch betrachtet und auseinanderdividiert. Er unterscheidet dabei den gemeinschaftlichen Wesenswillen (wenn vom Menschen bejaht; z. B. das Leben innerhalb der Gemeinschaft des Dorfs, im Sportverein oder in der Religion) vom gesellschaftlichen Kürwillen (wenn vom Menschen bejaht; z. B. die Teilhabe am öffentlichen Leben, an Formen politischer Partizipation oder die Teilhabe an einer Aktiengesellschaft). Der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft liege, nach Ferdinand Tönnies, nun darin, dass die Gemeinschaft auf der einen Seite sich selbst genügt, aus freien Stücken heraus gewählt werden kann, und auf der anderen Seite die Gesellschaft als individuell anwendbares Instrument betrachtet wird, das der Mensch zur Anwendung bringen kann oder aber auch nicht.
Zusammengefasst: Individualität wie Mündigkeit – in welchem politisch-soziologischen Ausmaß und mit welchen (vielleicht auch negativen) Begleiterscheinungen auch immer – haben dazu beigetragen, dass der Mensch im Zuge seines individuellen wie mannigfaltigen Strebens nach „life, liberty and happiness“ an gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens und an der aktiven Mitgestaltung der politischen Gesellschaft teilnehmen kann oder aber auch nicht. Je nach eigenem, subjektivem Ermessen zum einen, und soweit es die staatlichen Gesetze zum anderen zulassen. Es steht dem Menschen heute prinzipiell frei, politisch zu partizipieren oder ein im engeren Sinne gänzlich unpolitisches Leben im modernen Verständnis zu führen und politische Partizipation in Anbetracht des eigenen Lebensmodells abzulehnen. Eine Tatsache, die in der Antike – hierbei wiederum mit dem Fokus auf Theorie und Praxis der klassischen Zeit – weder anthropologisch noch gemeinschaftspolitisch anerkannt gewesen ist.23
4. Zur Aktualität: Bürgergesellschaft auch als Bürgergemeinschaft zu denken
Zweifelsfrei sollte der Vergleich von antiker Bürgergemeinschaft und moderner Bürgergesellschaft nicht überstrapaziert werden, zumal zwischen diesen beiden Perspektiven gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Entwicklungen liegen, die sich kaum bis gar nicht in einer einzigen Zusammenschau darstellen lassen. Und dennoch zeigt allen voran die weltweite COVID-19-Pandemie, dass die modernen Bürgergesellschaften vielleicht doch mehr Bürgergemeinschaften sind, als es zum einen die historischen, soziologischen und philosophischen Entwicklungen annehmen lassen und zum anderen die individuellen, mündigen und in Gesellschaft lebenden – und dadurch in dem Ausmaß ihrer politischen Partizipation völlig dem eigenen Urteil überlassenen – Bürgerinnen und Bürger heute wahrhaben mögen. Erschwerend kommt nun in dieser Zeit der Krise hinzu, dass Rationalisierung, Globalisierung und Kosmopolitisierung das Leben des Menschen und dessen subjektive Lebensgestaltung keineswegs einfacher machen.
Durch die Rationalisierungsprozesse sämtlicher Lebensbereiche und Lebensbeziehungen war und ist die Globalisierung eine weitere durch und durch rationale Folge, und das in allen ihren positiven wie negativen Auswirkungen. Wirtschaft, Politik und Wissenschaft finden heute immer auch im globalen Kontext statt. Und das, so der Soziologe Ulrich Beck, bringe nun die Notwendigkeit mit sich, den Beobachterstandpunkt auf die Gesellschaft (bzw. die Gesellschaften) zu verändern. Globale Probleme – wie u. a. eine weltweite Pandemie – könnten, so Ulrich Beck, nur im globalen Kontext gelöst werden. Und dafür benötige es des „kosmopolitischen Blicks“ auf diese Probleme.24 Ökologie-, Ökonomie-, Gesundheits- und Politikkrisen haben längst nicht mehr ausschließlich Auswirkungen auf