Fallout. Fred Pearce
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Begonnen hatte mein Tag in Hiroshima mit der jährlichen Gedächtniszeremonie im Friedenspark, der dort angelegt ist, wo früher das dicht bevölkerte Innenstadtviertel Sarugaku-cho stand. Sie war kurz, aber ernst und fand zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs statt. Die Familien der Hinterbliebenen schlugen die Friedensglocke an. Der Bürgermeister, der Premierminister und andere hielten kurze Reden, dann stiegen Friedenstauben auf, und es wurden Tausende von den Teilnehmern gefaltete Papierkraniche aufgehängt, die für die verstorbenen Kinder stehen.
Abseits der Zeltdächer für die geladenen Gäste stand eine stille Menschenmenge und folgte dem Ereignis auf Bildschirmen; die Musik und die Reden wurden von den Zikaden auf den Bäumen fast übertönt. Viele Besucher hatten Anstecker mit der Aufschrift »No Nukes« (Stoppt Atomwaffen) und Fächer mit der gleichen Botschaft mitgebracht. Einige alte Menschen standen in stummer Erinnerung mit ausdruckslosen Gesichtern da. Die meisten jedoch waren viel jünger. Für sie war das Ereignis ein erschütternder Teil der Geschichte. Es folgten einige – in meinen Augen – ausgesprochen sonderbare Formen des Gedenkens. Eine Frau im weißen Abendkleid sang mit zitternder Stimme, während eine andere – ebenfalls in Abendgarderobe – sie auf einem ramponierten Klavier begleitete, das die Detonation überstanden hatte. »Das bombardierte Klavier der verstorbenen Akiko« stand in englischer Sprache auf einem Schild.
Mich beeindruckte, wie die Menschen den Tatsachen ins Auge schauten. Niemand versuchte, seinen Kindern die Schrecken der Bombe zu ersparen. Während der Gedächtniszeremonie wurde von einem Jungen erzählt, der sah, wie »verkohlte Leichen die Straße blockierten. Ein unheimlicher Gestank drang mir in die Nase. So weit ich sehen konnte, erstreckte sich ein Feuermeer. Hiroshima war die Hölle auf Erden.« Zwei Sechstklässler trugen eine Friedenserklärung vor, die mit den Worten begann: »Ich roch die brennenden Körper. Die Haut der Menschen war geschmolzen. Sie sahen nicht mehr menschlich aus.« Im Museum zeigten Eltern ihren kleinen Kindern großformatige Bilder von verbrannten und entstellten Menschen und lasen ihnen die Texttafeln vor, auf denen die Symptome der Strahlenkrankheit ausführlich aufgelistet waren. »Zahnfleisch- und Nasenbluten durch Zerstörung der Schleimhäute, Haarausfall, Knochenmarksversagen, Verminderung der roten Blutkörperchen, Darmblutungen« und so weiter. Manche Opfer, so erfuhren die Kinder, hatten buchstäblich ihre Eingeweide ausgehustet.
Während meiner Forschungsreise um die Welt zu den Schauplätzen nuklearer Katastrophen habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen sich ihre Vorstellungen von den unsichtbaren Schädigungen durch die Kerntechnik zurechtlegen. Hier, wo die Menschen mit den schlimmsten Folgen eigene Erfahrungen gemacht hatten, ging man verstörend schonungslos und direkt damit um.
Ebenso eindrucksvoll war, wie wenig Groll gegen die Amerikaner es hier gab – was angesichts der Fernsehberichte über rüpelhafte ausländerfeindliche Äußerungen im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, die ich am Abend zuvor gesehen hatte, kein Wunder gewesen wäre. Doch nichts dergleichen. Manche zeigten sich vielmehr dankbar darüber, dass in diesem Jahr Präsident Barack Obama das Museum besucht hatte. Auch in Privatgesprächen äußerte sich niemand kritisch über die amerikanischen Touristen, die die Zeremonie still verfolgten. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sich die Amerikaner auf ähnliche Weise jede harsche Kritik verkneifen würden, hätten die Japaner eine vergleichbare Bombe über dem amerikanischen Festland abgeworfen.
Doch da war noch etwas anderes. Wenngleich das Museum in Hiroshima sich sehr direkt mit der Bombe und ihren schrecklichen Folgen beschäftigte, erwähnte weder dieses Haus noch sein Pendant in Nagasaki die Kapitulation Japans wenige Tage nach den Bombenabwürfen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs eingeläutet hatten. Mein Eindruck ist, dass Japan auf das Bombardement mit stoischer Ruhe und mit Würde zurückblicken kann. Die Niederlage hingegen war zu viel.
Als ich das Museum verließ, gab die lächelnde Mitarbeiterin am Ausgang jedem eine abschließende Botschaft mit auf den Weg. »Bitte denken Sie immer daran«, sagte sie, »dass schon innerhalb eines Monats nach der Bombe das Gras in Hiroshima wieder zu wachsen begann.« Archivaufnahmen hinter ihr zeigten, wie sich entlang des Flussufers Pflanzen schnell wieder ausgebreitet und durch die Risse im Straßenbelag gedrängt, wie sie die Asche überdeckt und sich zwischen die Trümmer der Gebäude geschoben hatten. Das sei eine »Hoffnungsbotschaft«, sagte sie. Eine solche Botschaft hatte ich nötig, als ich an dem Hügeldenkmal vorbeiging, das die Überreste von 70.000 Menschen enthält, deren Leichen überall in der Stadt gefunden worden waren, aber nie identifiziert werden konnten. Die Widerstandskraft der Natur gegenüber atomarer Strahlung wurde zu einem weiteren Leitgedanken auf meiner Reise zu den nuklear belasteten Landschaften der Erde.
Kapitel 2
KRITISCHE MASSE: MAUD IM GARTEN DER ATOME
Von allen moralischen Fragen einmal abgesehen, war die Entwicklung der beiden auf Japan abgeworfenen Atombomben eine wissenschaftliche Glanzleistung des 20. Jahrhunderts. Nach Hiroshima und Nagasaki wirkte die dampfgetriebene industrielle Revolution plötzlich reizend altmodisch. Doch das Atomzeitalter hatte ganz unvermittelt begonnen. Es war das Ergebnis einer wahren Flut neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Aufbau der Atome und darüber, wie unbeständig diese vermeintlich soliden Bausteine der Materie in Wirklichkeit waren.
Begonnen hatte alles Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung, dass die anscheinend so klar voneinander zu unterscheidenden Atome jedes Elements – Sauerstoff oder Uran, Kupfer oder Kohlenstoff – verschiedene Formen annehmen konnten: Isotope mit unterschiedlicher Anzahl Neutronen, die ihrerseits zu den Bausteinen der Atome zählen. Das Beunruhigende daran war die Instabilität vieler Isotope. Ein Isotop eines bestimmten Elements konnte sich in ein Isotop eines anderen verwandeln und dabei Energie freisetzen.
Als man verstand, dass sich manche Atome gezielt spalten ließen, indem man sie mit den Neutronen eines anderen radioaktiven Elements beschoss, wurde aus einer spannenden wissenschaftlichen Erkenntnis eine Entdeckung, mit der sich die Kriegsführung revolutionieren ließ. Als Erstem gelang eine solche Atomspaltung oder »Kernfission« 1917 dem neuseeländischen Physiker Ernest Rutherford. Doch erst 1933 äußerte der Ungar Leó Szilárd die Vermutung, man könne damit eine explosive Kettenreaktion auslösen, bei der jedes gespaltene Atom viele weitere Neutronen freisetze, die wiederum mit anderen Atomen kollidieren würden. Jede Stufe dieser nuklearen Kettenreaktion würde enorme Energiemengen erzeugen.
Am besten, so Szilárd, eigne sich für eine solche Kettenreaktion Uran, ein Metall, das aufgrund der Größe seines Atomkerns mit jedem Schritt die meisten Neutronen freisetze. Dazu müsse das Uran stark komprimiert vorliegen, damit bei der Spaltung möglichst viele frei gewordene Neutronen weitere Uranatome träfen. Und könne man eine »kritische Masse« Uran im Inneren einer Bombe zusammenführen, so würde sie mit einer Sprengkraft von Tausenden Tonnen TNT explodieren.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die wenigen Atomwissenschaftler vom europäischen Festland nach Großbritannien und in die USA geflohen, wo sie an ihren Ideen weiterarbeiteten. Ende 1939 traf sich der inzwischen in Amerika lebende Szilárd mit Albert Einstein, dem damals berühmtesten Physiker weltweit. Gemeinsam schrieben sie Präsident Franklin Roosevelt und schlugen vor, dass Amerika, wenngleich neutral, eine solche Bombe entwickeln sollte – nicht zuletzt für den Fall, dass Deutschland dasselbe täte.1
Roosevelt schien anfangs wenig interessiert. In Großbritannien aber, das sich von einer deutschen Invasion bedroht sah, erhielten zwei weitere emigrierte Physiker eine ganz andere Resonanz. Wenige Wochen nachdem Szilárd von Roosevelt einen Dämpfer bekommen hatte, wandten sich der österreichische Physiker Otto Frisch und sein deutscher Kollege Rudolf Peierls in einem Brief mit derselben Idee an Winston Churchill. Er enthielt eine wichtige Ergänzung. Nach ihren Berechnungen war zur Herstellung einer Kernspaltungsbombe nur eine kritische Masse von 22 Pfund Uran nötig, viel weniger als die meisten Physiker