Die Suche nach Tony Veitch. William McIlvanney
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Als er aufblickte, löste sich seine Schwermut angesichts des freundlich runden Gesichts der Schwester, die sich praktischen Dingen widmete. Durch sie wurde ihm bewusst, dass er es am besten genauso machen sollte.
»Verzeihung«, sagte er. »Den Zettel brauche ich. Muss ich was dafür unterschreiben?«
5
SCHANKGESETZE KÖNNEN SPASS MACHEN. Ohne käme man nie in den Genuss der geheimnisvollen Freuden des verbotenen Trinkens nach Kneipenschluss – und des Gefühls der Dazugehörigkeit zu einem sehr kurzlebigen Klub. Romantisch wie eine Holzhütte in Yukon, doch die Zeit sabbert schon wie ein zahnloser Wolf vor verschlossener Tür.
Genau solch eine Atmosphäre herrschte im »Crib«, einem Pub, das trotz seines Namens für Kinder kaum geeignet war. Es war nach halb eins. Draußen auf den Straßen von Saracen, einem ruppigen Viertel nördlich des Zentrums, war es ruhig. Drinnen hatten fünf Menschen spontan ein Pentagramm gebildet und dazu aufgerufen, sich selbst zu feiern.
Einer von ihnen war der ständige Barkeeper Charlie, der von einem Pub in Calton hierhergekommen war. Er war Mitte fünfzig und seinem Alter an Klugheit weit voraus. Obwohl er den Großteil seines Lebens zwischen gewalttätigen Männern verbracht hatte, waren seine schlimmsten Auseinandersetzungen solche mit Bierfässern gewesen.
Das Geheimnis seines narbenfreien Gesichts war ein feines Gespür für Hierarchien. Wie ein Glasgower Knigge kannte er exakt die für jede beliebige Situation angemessene Form der Ansprache. Außerdem arbeitete er für einen Mann, dessen Namen andere sich überzogen wie eine Livree aus Panzerstahl. Hatte man Beziehungen zu John Rhodes, war das ein bisschen, als hätte man Securicor als Taxiunternehmen verpflichtet.
Ein Vorteil, den Charlie nie ausnutzte. Selbst jetzt, in der sicher abgesperrten Kneipe, zügelte er sich, weil er wusste, dass Ausgelassenheit angreifbar macht. Er hatte zwei nicht allzu große Whisky getrunken und leise in den Refrain eines Lieds eingestimmt.
Dass er genau wusste, wo er war, war weniger entscheidend als dass er wusste, wo er nicht war, nämlich im Krankenhaus. Dies hier war Dave McMasters Veranstaltung. Charlie begnügte sich damit, einer weiteren von Daves Geschichten zu lauschen.
»Die gehen also auf den Barras, den Markt, okay? Einer ist als Nikolaus verkleidet. Ein Zentner Baumwolle und Gummistiefel von der Armee. Der andere schleppt die Spielsachen, kleine Modellautos und angesabbertes Kaugummi. Nikolaus lockt sie an, und sein Helfer nimmt ihnen das Geld ab. So machen die das den ganzen Tag, verziehen sich nur ab und zu zum Aufwärmen ins Pub. Gut. Als dichtgemacht wird, sind sie auch wieder drin. Teilen die Beute. Nur dass der Helfer zwei Drittel haben will und der liebe Nikolaus nur eins bekommen soll. Nikolaus ist stinkig. Und zack! Könnt ihr euch das vorstellen? Er präsentiert ihm ein Geschenk. Dann tätowiert er ihm die Rippen mit den Stiefeln. Flucht so laut, dass sein Bart Feuer fängt. Am lustigsten war’s, als der Türsteher die beiden rausgeschmissen hat. Nikolaus liegt auf dem Gehweg und der Rausschmeißer schreit: Du hast Hausverbot, Nikolaus! Hausverbot. Nikolaus hat Hausverbot.«
Charlie lachte mit, aber nicht mit derselben Unbekümmertheit wie die anderen. Er hatte begriffen, worum es ging. Die anderen drei hofierten Dave.
Das Mädchen war seine Freundin. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, fraß sie ihn mit Blicken auf. Lachte über seine Witze, als gelte es einen Wettstreit zu gewinnen.
Mit ihrem vornehmen Akzent, ihren schicken Klamotten und ihrer blonden Eleganz gehörte sie hierher wie eine Jungfrau ins Bordell. Aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter, als der erste Eindruck vermuten ließ. Sie war jetzt schon seit einem Monat ständig in Daves Nähe. Was auch immer sie an ihm anziehend fand, seine zuvorkommenden Manieren konnten es nicht sein.
Dave McMaster war die neue Version eines alten Typs. Charlie hatte schon einige von seiner Sorte erlebt, Rabauken mit der Ambition, sich einen Ruf über den eigenen Freundeskreis hinaus aufzubauen und das eigene Hobby, Gewalt, zum Beruf zu machen.
Bei einer Schlägerei mit zwei jungen konkurrierenden Banden aus Possil war Dave ausgetickt, hatte ein Bajonett geschwungen und mehr als sechs Gegner in die Flucht geschlagen. Charlie konnte sich vorstellen, wie er am nächsten Morgen aufgewacht war und plötzlich einen Ruf zu verteidigen hatte, der ihm ebenso viel abverlangte wie eine Heroinsucht. Seither hatte er sich weiterentwickelt, aber Charlie zweifelte immer noch. Dave war sehr schnell aufgestiegen. Jetzt war er die rechte Hand von Hook Hawkins, der im Auftrag von John Rhodes vier Pubs in Saracen führte, darunter auch »The Crib«. Dave war ehrgeizig. Charlie fragte sich nur, ob er sich in seinem Ehrgeiz nicht übernahm.
Keiner der anderen schien Charlies Bedenken zu teilen. Sie waren so kritisch wie ein Fanklub. Außer dem Mädchen saßen dort Macey, ein kleinkrimineller Einbrecher, und ein Junge namens Sammy, den Charlie nicht kannte. Wahrscheinlich wollte sich Macey in Daves Fahrwasser hocharbeiten.
Sammy war Tourist, Macey hatte ihn hier eingeführt. Er sah aus wie ein Vetter vom Land. Seine Augen glänzten vor Bewunderung für Daves Unerbittlichkeit. Vermutlich gehörte er zu der Sorte von Schwachköpfen, die Eintrittskarten für Verkehrsunfälle kaufen. Er wollte unbedingt dazugehören, konnte sich aber selbst nicht helfen.
Er hatte eine lustige Geschichte zum Besten geben wollen, war damit aber rübergekommen wie einer, der eine Partie Golf Loch für Loch nacherzählt. Zum Glück konnte er singen, seine helle, schöne Stimme hatte ihn nicht verdient. Charlie ging durch den Kopf, dass Sammy besser zu Hause geblieben wäre und nur Kassetten von sich geschickt hätte.
»Das ist wahr«, sagte Dave. »Als die bei ihm waren, stand eine Drechselbank im Schlafzimmer. Und er wusste nicht mal, was man damit macht. Hat sie nur mitgehen lassen, falls sie was wert ist. Wofür das Ding gut sein kann, hat er erst aus der Anklageschrift erfahren.«
Das Gelächter entsprach nicht dem Witz des Gesagten, nur der Autorität, mit der Dave es vorgetragen hatte. Seine selbstbewusste Ausstrahlung ließ alles, was er sagte, lustig erscheinen, auch wenn es in der Nacherzählung auf ein Nichts zusammengeschrumpft wäre. Als es an der Tür zur Straße klopfte, lachten sie immer noch.
Dave zog eine Grimasse.
»Sieh nach, Charlie«, sagte er. »Wenn’s niemand Besonderes ist, wirf ihn raus.«
Charlie ging zur Tür und machte auf, ließ die Kette aber vorgelegt. Durch den Spalt sah er Cam Colvin. Hinter ihm standen zwei andere, die Charlie nicht erkennen konnte. Was auch nicht nötig war. Cam Colvin genügte. Charlie wünschte, John Rhodes wäre da.
»Mr Colvin. Kann ich helfen?«
»Du kannst dir selbst helfen, indem du die Tür aufmachst. Es sei denn, du willst einen zweiten Durchbruch zur Straße.«
Charlie kannte seine Aufgaben, und sich Cam Colvin zu widersetzen gehörte nicht dazu. Dave hatte nur gesagt, wenn’s jemand Besonderes ist, sollte er ihn reinlassen. Cam war jemand Besonderes. Charlie zog die Kette ab.
Hinter Cam traten Mickey Ballater und Panda Paterson ein. Mickey war eine Zeit lang aus Glasgow weg gewesen und nicht mehr so bekannt wie früher, aber Charlie hatte ein gutes Gedächtnis.
Panda hieß wegen seines trügerisch gemütlichen Aussehens so, er war groß und schwerfällig, hatte ein rundes unschuldiges Gesicht. Er hätte ein Teddybär sein können, wären seine Krallen nicht echt gewesen.
Charlie ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Keiner von ihnen gehörte zu Colvins Männern. Charlie, der wusste, dass Paddy Collins im Sterben lag, konnte nur vermuten, dass sie im Vicky aufmarschiert