Heinrich von Kleist. AAVV
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Die Forschungen zu Kleist betonten häufig die Dimensionen des konkreten Daseins in Kleists Werk, seine persönliche Problematik mit psychischen Störungen, mit der, wie Kleist an die Schwester Ulrike (5. Februar 1801) schrieb, zerrissenen Seele, die wie die Sprache des Menschen in Bruchstücke zersplittert sei (Kleist, 1994, II: 626). Grundlage der Interpretation wurden damit Äußerungen zu den Unsicherheiten des persönlichen Lebens, der fehlenden Geborgenheit und des Bewusstseins von Kontingenz und Zufall in den Texten Kleists.
Berühmt wurden die Aufzeichnungen aus dem Jahre 1801. In diesen inszenierte Kleist unterschiedliche Todesarten, häufig in tragikomischer Art: Sterben an der Kontingenz eines Eselsgeschreis, sterben im Sturm auf dem Rhein. Im Brief an Karoline von Schlieben (Paris, 18. Juli 1801) berichtete Kleist in lebendiger Rhetorik:
... als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, dass wir wirklich gerade so vernünftig sein mussten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? (Kleist, 1994, II: 666).
Der scheinbare Realismus löst sich schnell im intertextuellen Blick auf. Das Vorbild findet sich in Platons Dialog Phaidros, im Bild der Seele als Wagenlenker. Kleist drehte das Bild um 180 Grad: Die Vernunft halte keine Zügel in der Hand, die Pferde seien beide unvernünftig, jegliches Telos fehle. Auch ein Richtungswechsel findet statt: Nicht ins Elysium gehe die Fahrt, sondern in den Abgrund.
Kurze Zeit später im Brief an Wilhelmine von Zenge (21. Juli 1801) wurde die literarische Inszenierung noch deutlicher. Er, so schrieb Kleist recht lebhaft und anschaulich, habe sich mit dem Fährschiff mitten auf dem Rhein befunden, als ein plötzlich einsetzender Sturm das Boot in den Abgrund zu reißen drohte. Todesangst habe ihn ergriffen. Diese Angst wandelte er sofort in eine trockene Reflexion über den Sinn des Lebens um. Der Bezug zum Motiv des Schiffbruchs (Odysseus, Lukrez, Voltaire, Bibel), vielleicht sogar zum Gedicht Zu Bacharach am Rheine, das Clemens Brentano im Jahr 1800 geschrieben hatte, lässt ein reales Erlebnis als Grundlage der Darstellung unwahrscheinlich werden. Kleists Methode der Vervielfachung, nicht nur einer einfachen Verdopplung, wie sie Fritz Martini für das Käthchen von Heilbronn annahm, könnte sich direkt auf die Forderung von Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment Nr. 116 nach einer Potenzierung des Lebens und der Literatur beziehen (Martini, 1976: 428 ff.; Schlegel, 1988, Fragm. 116). Kleist interpretierte die erscheinende Wirklichkeit durch die Literatur, die ihrerseits die Literatur kommentierte. Er interpretierte die Parisreise: «... und nun sehe ich mich auf einer Reise ins Ausland begriffen, ohne Ziel und Zweck, ohne begreifen zu können, wohin das mich führen würde – Mir war zuweilen auf dieser Reise, als ob ich meinem Abgrunde entgegen ginge» (Kleist, 1994, II: 667). Die Figur eines Geschehens «Als-Ob» und die Plötzlichkeit als möglichen Wendepunkt im Leben (Peripetie) waren literarisch schon ausgeprägt spätestens bei Augustinus. Es deutet sich an, dass Kleist das Motiv der romantischen Todessehnsucht in einer potenzierenden Intention für die Selbstinszenierung aufgegriffen habe.
Auch die politischen Ambitionen Kleists erfordern ein Fragezeichen hinter den scheinbar klaren Aussagen. Im Dezember 1805 schrieb er an von Lilienstein: «Ja, mein guter Rühle, was ist dabei zu tun. Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben» (Kleist, 1994, II: 761). Bekräftigt wurde das Interesse an der Politik im Brief an Karl Freiherrn von Stein (Dresden, 1. Januar 1809): «... so will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen» (Kleist, 1994, II: 820). Das Ergebnis waren Lobreden im hohen Stile, Lehrbücher und Katechismen, Proklamationen, fiktive Briefe, operative Gattungen wie Fabeln und Satiren, Programme und Essays sowie eine aggressive Kriegslyrik (Kriegslied der Deutschen, Germania an ihre Kinder). Die operative Begrenzung dieser Gattungen wurde Kleist als sprachkritischem Autor schnell klar (Essen, 2005). Kleist nahm wahr, dass ein politisches Engagement auch Lebenssinn produzieren konnte. Die Beschreibungen des auf dem Wege des Untergangs befindlichen Selbst und das politische Schreiben als Barde für den Widerstand Deutsch-lands gegen die französischen Untermenschen, die nach Kleists eigenem Bekunden nur auf der untersten Stufe von Tieren stehen würden – so Kleist im Kriegslied der Deutschen –, verweisen auf eine ästhetische Inszenierung. Anders als sein Verwandter, der preußische Offizier Ewald von Kleist, hauchte der Dichter sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld aus.
Kleist, der seine Texte sorgfältig konstruierte und kombinierte, beschäftigte sich intensiv mit den Fragen seiner Zeit und antwortete mit seinen Dramen und Novellen auf diese. Dramen und Novellen sind keine Essays oder Abhandlungen, doch sie verfügten in der Aufklärung über theoretische Grundannahmen. Seit Platon und Aristoteles, aber auch im Mythos vom Sündenfall, stellte sich die Frage nach dem ganzen Menschen, dem Sinn seines Daseins, seiner Stellung innerhalb der Welt. Kleist wandte sich diesen Problemen zu, den Fragen nach dem Menschen als Vernunft- und als Naturwesen, nach der freien Entscheidung und dem kantischen «radikal Bösen», der Frage nach dem Naturzustand und der Leistung der Kultur, nach dem Verhältnis von Leib, Psyche und Seele. Die Forschungen zu Kleist arbeiteten deutlich die Bezüge zur Anthropologie der späten Aufklärung heraus (Košenina, 2009; Bennholdt-Thomson, 2005). Die von Kleist thematisierten verworrenen Zustände waren schon lange vorher Gegenstand der Theorien von den menschlichen Seelenvermögen bei Christian Wolff und bei Gottfried Wilhelm Leibniz (Kleist, 1994, II: 654). Die Vertreter der modernen Anthropologie kannte Kleist meist persönlich. Während der Würzburger Reise hörte er die Vorlesungen von Ernst Plattner (1801). Im Juliusspital in Würzburg erlebte Kleist eine Reihe von psychisch Kranken während ihrer Leiden. Mit dem Göttinger Johann Friedrich Blumenberg und dem Magazin für Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz beschäftigte sich Kleist, angeregt durch seinen Erzieher Christian Ernst Wünsch und dessen Lehrbuch Kosmologische Untersuchungen für die Jugend (Leipzig, 1778-1780, 3 Bde.). Der Mediziner Georg Wedekind, von welchem sich Kleist in der Zeit von Dezember 1803 bis Juni 1804 behandeln ließ, publizierte in Moritz’ Magazin. Wedekind eröffnete auch den Weg zu den mesmeristischen Experimenten von Christoph Ludwig Hoffmann und Eberhard Gmelin, deren Vorstellungen einigen Einfluss auf das Schauspiel Käthchen von Heilbronn ausgeübt haben (Weder, 2008; Peters, 1990). Bei Gmelin fand sich auch die Geschichte mit den grünen Augengläsern, die Kleist im März 1801 aufgriff (Kleist, 1994, II: 634; Mandelartz, 2006). Die Vorlesungen des Psychiaters Johann Christian Reil kündigte Kleist 1810 in seinen Abendblättern an (Kleist, 1959). Kleist besuchte 1807 die Vorlesungen von Gotthilf Heinrich Schubert über die Ansichten von den Nachtseiten der Naturwissenschaften. Schubert vertrat die These von einer dreifachen Natur des Menschen, der aus Leib, Seele und Geist bestehen sollte. Nach Schubert soll der Mensch von Ich-Sucht beherrscht sein und ständigen Metamorphosen unterliegen. In ihm kämpften die beiden Wünsche nach dem Tod und nach der Liebeserfüllung miteinander. Im Traum würden diese Sehnsüchte geäußert, sie erschienen als Hieroglyphen, die mit der Zeit die Form universaler Symbole annähmen (Schubert, 1961; Ellenberger, 1985).1 Für Kleist bedeutete dies, dass der Mensch nicht mehr