Heinrich von Kleist. AAVV
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Es war das Verdienst des Novalisforschers Josef Kunz, auf die Modellhaftigkeit von Kleists anthropologischem Grundverständnis hingewiesen zu haben. Kunz entdeckte in der Penthesilea und der Geschichte der Marquise von O... eine Ausformung der Theorie der verschiedenen Stufen der Wesen. Kunz fasste zusammen:
Danach gibt es also in Kleists Vorstellung verschiedene Stufen, Ebenen, Stadien des Lebens. Es gibt die Stufe der Existenz mit ihrer Entfremdung vom Grunde, mit ihrem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Gewissheit und Ungewissheit. Und es gibt die Stufe der Präexistenz, in die die Zweideutigkeit und Spaltung nicht hineinreichen. Der Mensch aber lebt [...] offenbar auf diesen verschiedenen Stufen des Lebens zugleich (Kunz, 1967: 684).
Es handle sich um eine Dreistufenlehre, bestehend aus Präexistenz, Existenz, Überwindung der Krise und Ahnung der Vollkommenheit.
Der Blick ins 18. Jahrhundert zeigte, dass Kleist die gängigen Theorien der Stufenleiter der Wesen bekannt waren. Doch dürfte er mit der Lehre der Präexistenz kaum ein Schüler des Origines gewesen sein, auch eine Nähe zur Existenzphilosophie von Sören Kierkegaard lässt sich nicht beweisen. Doch die Theorie der great chain of being beschäftigte Aufklärung und Romantik (Lovejoy, 1993). Die Anfänge der Theorie fanden sich bei Aristoteles, der drei Stufen unterschied: a) vegetative Funktionen, Wahrnehmung und Bewegung sowie Denkvermögen, b) die Wärme des Körpers und c) den Grad der Komplexität von Körpern. Interessant wäre es, hier die Metaphern der Temperaturen bei Kleist mit Blick auf die Theorie der Kette der Wesen zu analysieren. Denn häufig werden den Figuren Temperaturen zugewiesen, so dass diese kalt wie Eis oder heiß wie eine Sonne erscheinen. Aristoteles behauptete auch, dass eine entscheidende Differenz des Menschen zur Welt im Besitz einer Seele liege. Mediziner und Literaten wie Leibniz, John Locke, Joseph Addison, Bolingbroke, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Pope, Albrecht von Haller, Kant, Herder und Schiller schlossen sich den Theorien an.2 Beschrieben wurde die Kette der Wesen von Alexander Pope in Essay on Man (1734):
Der Wesen Kette, die mit Gott begann,
ätherisch hohe Wesen, Engel, Mann,
Tier, Vögel, Fisch, Insekt, was Augen hier
Nicht sehen: vom Unendlichen zu Dir,
von Dir zum Nichts... (Pope 1993: 33).
Immanuel Kant vertrat in der Allgemeinen Naturgeschichte ähnliche Auffassungen (Kant, 1983, I: 386 f.). Der Mensch nehme eine Mittelstellung zwischen dem Nichts und der absoluten Vollkommenheit ein. Als Mittelwesen könne er nie die Gottheit verstehen, denn der Körper ziehe ihn ins Naturreich hinab.
Der biblische Mythos vom Sündenfall, der Kleist oft beschäftigte bis dahin, dass er empfahl, die Hintertüre des Paradieses zu suchen, erweiterte die Theorie (Kurz, 1981/82) ebenso wie der antike Mythos. Als Minimum finden sich daher in seinem Werk drei ineinander verschränkte Ebenen: Gottheiten, Menschen und Tiere. Die Gottheiten traten plötzlich ins Leben der Menschen, wie ein Blitzesstrahl. Jupiter aus dem Amphitryon oder Friedrich Wetter, Graf vom Strahl, der seine antik-göttliche Abkunft im Namen trug und als Cherubim agierte, können dies belegen. Achill in Penthesilea erschien dieser als der Sonnengott Helios. Agnes in Die Familie Schroffenstein erhielt Attribute der Jungfrau Maria und der Cherubim. In Der zerbrochene Krug spiegelten die beiden Namen Adam und Eve das Geschehen im Garten Eden wider. Käthchen von Heilbronn zeigte eine weibliche Figur, deren Erscheinung wie Maria, Maria Magdalena und Aphrodite in ein Bild zusammengefasst aussah. Insgesamt lassen sich im Werk Kleists viele Erscheinungen von Engeln und Cherubim auflisten.
Neben die Überhöhung des Menschen auf die Stufe der Engel oder der Gottheiten stellte Kleist die Erniedrigung des Menschen zum Tier. Das bekannteste Beispiel dürften Penthesilea, die mit ihren Hunden gleich einem gierigen Hund den Geliebten kannibalisch verzehrte, und Käthchen sein, die wie ein Hund dem Geliebten folgte (Klüger, 1993). Käthchen entstieg dem Bad in der Grotte als ein Schwan. In Robert Guiskard erschien der Held als kranker Löwe. Achill verwandelte sich in die Figur des Aktäons und erlitt dessen Schicksal, Ähnliches drohte in dem Gedicht Der Schrecken im Bade. Graf Strahl nahm die Rolle eines verliebten Käfers ein. So erhielt der Beischlaf zwischen Käthchen und Graf Wetter unter dem Holunderbaum – Symbol für den Ort, an welchem sich Judas erhängte – eine animalische Komponente. Im der Herrmannschlacht agierten die Römer als Wölfe. Rupert in Die Familie Schroffenstein nannte den Krieg eine Jagd auf Schlangen und Wölfe (Schmid, 1974: 79-87; Münster, 2004).
Die Stufenfolge der Wesen wusste auch von der anthropologischen Zerrissenheit, vom Leben an den Grenzen. Es sei, so Kleist, der arme herzdurchglühte Mensch, dessen Herz und Vernunft beständigem Irrtum und Wirrungen unterliege. In seiner Anthropologie lebte der Mensch unsicher in Beschränkungen, an den Grenzen der Reiche der Natur und des Göttlichen mit der Tendenz, diese Grenzen zu überschreiten. Das Paradies war verlassen, der Naturzustand nicht mehr erreichbar, das Glück des himmlischen Elysiums weit entfernt. Friedrich Schiller hatte in Über naive und sentimentalische Dichtung auf den Riss in der Welt hingewiesen. Schillers Ausweg bestand in der Suche nach dem Elysium. Friedrich Schlegel hatte in Über das Studium der Griechischen Poesie diesen Weg verschlossen und auf die unendliche Perfektibilität der Moderne verwiesen. Kant zeigte auf, dass der Mensch lediglich die Phänomene, nie aber das Sein erkennen könne, allenfalls mittels des Gefühls (Affektes) eine leise Vorahnung erhaschen könne. Käthchen geriet dem Ding an sich ganz nahe, da sie wie eine «fünfdrähtige» Marionette handelte. Es sei, so Kleists Konklusion, eine Welt des «Als-Ob», in welcher der Mensch leben müsse und zu keiner Versöhnung der Widersprüche gelangen könne. Weder Vernunft noch Gefühl könnten die Welt erklären, ihr ihren Sinn verleihen. Daher vertrat Kleist eine Anthropologie des Risses in der Welt und durch den Menschen, der am Ende nur noch verstümmelt leben könne. Ein Beispiel hierfür wäre Penthesilea, die Achill die Brust reichen will, die sie sich als Kriegerin abgeschnitten hatte.
Der Riss bestimmte nicht nur das Leben. Die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Gott und Mensch blieb zwar opak für Kleist, aber sie war nicht in der Welt überschreitbar. Der göttliche Wille, so sagte es Sylvester in Die Familie Schroffenstein, lenkte für den Menschen unerkennbar die Welt. Am Ende blieb nur eine Figur aus der Gnosis übrig: Der Deus absconditus, der verborgene Gott, der nicht erkennbar ist, wohl aber durch seine Boten in die Welt wirken kann. Jupiter im Amphitryon donnerte die Figur des menschlichen Amphitryon an, als dieser Auskunft über die Gottheit verlangt hatte: «Das Licht, der Äther, und das Flüssige, / Das was da war, was ist, und was sein wird» (Kleist, 1994, I: 318).
Welche Antwort auf diese Unsicherheit und Ungewissheit gab die Anthropologie Kleists? Welches sollte nun das Telos des Menschen sein? Johann in Die Familie Schroffenstein fasste den Weg zusammen: «Ins Glück? Es geht nicht Alter. ‚S ist inwendig / verriegelt. Komm. Wir müssen vorwärts» (Kleist, 1994, I: 148). Den Übergang ermöglichte nur eines: der Tod. Hier schließt sich der Bogen zum Glück. Penthesilea schwärmte auf der Bühne: «Ich bin so selig, Schwester, überselig! / ganz reif zum Tod o Diana, fühl ich mich» (Kleist, 1994, I: 421). Die Glückseligkeit scheint erreichbar zu sein, wenn der Mensch sich in einen Gott verwandelt, so jedenfalls die Vorstellung Penthesileas. Auch Kleists Seele, so schrieb er im Abschiedsbrief an Marie von Kleist und wiederholte fast wörtlich seine Protagonistin, sei ganz zum Tode reif geworden, habe die Welt, die Erde, das Ganze und Einzelne überwunden (Kleist, 1994, II: 885). Der Erlösungsschritt der Gnosis wurde im November 1811 vollzogen. In Freude und unaussprechlicher Heiterkeit wolle er sterben, so hieß es im letzten Brief an Ulrike von Kleist. Zur gleichen Zeit träumte er gegenüber Sophie Müller: «Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!» (Kleist, 1994, II: 886). Der Übergang ins Jenseits,