Kein Trost, nirgends?. Hans-Jürgen Benedict
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Der Dienst in der Schule wurde für Elisabeth Schmitz angesichts der stärker geforderten Indoktrinierung der jungen Generation immer schwieriger. Eine nichtarische Kollegin, Lottesophie Hartzfeld, brachte sich um. Kirchlich orientierte sie sich in dieser Zeit stärker zur Dahlemer Gemeinde hin, wo Martin Niemöller sonntags oft vor eintausend Zuhörern in der Jesus-Christus-Kirche predigte. Dann kam es zu einer Zuspitzung des Kirchenkampfes mit der Verhaftung Martin Niemöllers am 1. Juli 1937; als Hitlers persönlichen Gefangenen brachte man ihn in das KZ Dachau. Es ist anzunehmen, dass sich Elisabeth Schmitz an den Fürbittgottesdiensten für die inhaftierten Pfarrer der BK beteiligte. Sie trat in Kontakt mit dem inoffiziellen Nachfolger Niemöllers in Dahlem, dem jungen Pfarrer Helmut Gollwitzer, einem Barth-Schüler. Noch einmal unternimmt sie im September 1938 einen Versuch mit einem Brief-Appell an den BK-Pfarrer Niesel, „die Bekennende Kirche möge endlich über die Behandlung der Juden in Deutschland ein Wort an die Gemeinden richten.“ Sie schreibt diesen Brief vor dem Hintergrund der Sudetenkrise und der damit drohenden Kriegsgefahr. Sie mahnt: „Denn was ein Krieg für die Behandlung der Juden in Deutschland bedeuten würde, ist nicht abzusehen.“ Die Gemeinden müssten über die Verfolgung der Juden in Deutschland besser informiert werden. Sie müssten ihre Mitschuld an der Vereinsamung und Verzweiflung erkennen, denn „wir“ hätten geschwiegen, wo „wir“ hätten reden müssen, zu den Misshandlungen in den Lagern und zum Mord.10 Ein solches klares Wort, durch Unterschrift bekräftigt, wozu sie bereit sei, müsse jetzt kommen. Doch wieder kommt keine positive Reaktion von der BK. Diese war mit den Folgen der Gebetsliturgie zur Erhaltung des Friedens angesichts der Sudetenkrise beschäftigt und wollte sich nicht durch eine solche Stellungnahme zu der Verfolgung der Juden zusätzlich in Schwierigkeiten bringen. Die Ereignisse um den 9./10. November, die sie vorausgesehen hatte, versetzen Elisabeth Schmitz in schlimmste Aufregung. Sie lässt sich krankschreiben (und kehrt danach auch nicht in den Schuldienst zurück, der für sie ohnehin wegen der ihr abgeforderten nationalsozialistischen Lehrinhalte immer schwieriger geworden war.) Zugleich unternimmt sie einiges, um das Ungeheuerliche der Reichspogromnacht mit genaueren Berichten in der Kirche bekannt zu machen. In drei Briefen an den Dahlemer Pfarrer Helmut Gollwitzer versorgt sie diesen mit zusätzlichen Informationen zum minutiös geplanten Ablauf des Pogroms, die sie durch eigene Recherchen und Lektüre ausländischer Presse herausbekommen hatte. „Die Verhaftungen dauerten gestern noch an. Es wird die Zahl von 40.000 genannt. In München, Nürnberg, Breslau und wohl auch in Frankfurt a. M. scheinen alle Männer im Alter von 16–40 Jahren verhaftet zu sein.“ Sie gibt zu bedenken, dass zu einem solchen Vorgehen die Kirche nicht schweigen dürfe, sondern „sofort in allen Gemeinden Bußgottesdienste ansetzen müsste.“
Gollwitzer, der zunächst erwog, zu der Pogromnacht und ihren Folgen zu schweigen, fühlte sich durch Schmitz’ Intervention ermutigt, doch in seiner Bußtagspredigt dazu Stellung zu nehmen und ohne die Juden wörtlich zu nennen, die Aktionen des Pogroms zu verurteilen und die Mitschuld der Kirche zu benennen: „Was hat nun uns und unserm Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genutzt die ganzen Jahre und Jahrhunderte als daß wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen?“ „Wir (sind) mitverhaftet in die große Schuld, daß wir schamrot werden müssen.“ An der wachsenden Grausamkeit „sind wir alle beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch Bequemlichkeit, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen (…) durch die verfluchte Vorsicht.“ Gollwitzer entließ seine Zuhörer mit den Worten: „Nun wartet draußen unser Nächster, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und getrieben von der Angst um die nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf. Amen.“11
Nach Gollwitzers mutiger, wenn auch die brutale Ausgrenzung der Juden nur indirekt benennender Predigt am 16. November 1938, hat Elisabeth Schmitz, sie wohnte dem Gottesdienst bei, dann noch einmal an Gollwitzer geschrieben. In diesem Brief vom 24. November stehen die Sätze, die mit Recht als prophetisch bezeichnet werden und die zu den großen Briefdokumenten im 20. Jahrhundert gehören: „Als wir zum 1. April 1933 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte Gesetze – da und tausendmal sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, daß die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“12 „Das Wort der Kirchen ist nicht gekommen. Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem Wissen, daß wir daran schuld sind.“ „Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, daß sie schon jetzt, wo die zahlreichen Verhaftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird – auch in kirchlichen Kreisen.“ Das Gerücht darüber, dass ein Zeichen an der Kleidung der Juden vorgesehen sei, hält sie für ein schlimmes Omen. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“13
Anders als die meisten Deutschen während dieser ersten sechs Jahre der Hitler-Herrschaft hat Elisabeth Schmitz hingesehen und das, was sie gesehen hat, was eigentlich alle sehen konnten, wenn sie nicht wegschauten, dokumentiert, gedeutet und anderen mitgeteilt. Besonders ihrer Kirche, von der sie einen Protest gegen das schreckliche tagtägliche Geschehen der zunehmenden Ausgrenzung und schließlich der Vernichtung der Juden erwartete. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“ Ich halte diesen Satz der Berliner Lehrerin für eine prophetische Aussage, eine Unheilsprophetie vom Zuschnitt Jeremias. Dieser Satz‚ die Deportation des letzten Juden bedeute das Ende des Christentums, ist vor allem ein heilsgeschichtlich-theologischer Einwand. Schmitz sagt: Die von den Kirchen hingenommene Vernichtung der Juden ist das Ende des Christentums, weil es untrennbar mit dem Judentum, aus dem es stammt, verbunden ist. Eine ähnliche Aussage findet sich auch bei Dietrich Bonhoeffer, wenn er in seiner nicht fertiggestellten Ethik um 1943 formuliert: „Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unauflöslich verbunden, nicht nur genetisch sondern auch in echter unaufhörlicher Begegnung (…) Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“14 Diese klaren Aussagen von Elisabeth Schmitz und Dietrich Bonhoeffer werfen die Frage auf, ob mit der von den deutschen Kirchen hingenommenen Judenvernichtung durch das Naziregime nicht das herkömmliche Christentum tatsächlich ein Ende gefunden hat, auch wenn es weiterlebt. Denn es ist ein Versagen, das an die Substanz gegangen ist und das die Botschaft von der Versöhnung in Christus beschädigt hat. Davon legte indirekt Propst Grüber, der ehemalige Leiter der Hilfsstelle, Zeugnis ab, als er kurz vor seinem Tod 1975 erklärte: „Wir leiden bis heute unter diesem Schweigen der Kirchen. Das lässt mich bis zu meinem Lebensende nicht mehr los.“15 Es ist ja leider so, dass die Kirchen nach dem Krieg das ungeheure Verbrechen der Shoah lange Zeit verdrängten, dass sie keine Scham empfanden bzw. sie nicht zeigten und seine epochale unheilsgeschichtliche Bedeutung nicht wahrgenommen haben. Oder anders gesagt – sie haben nicht bemerkt bzw. nicht zugeben wollen, dass durch die Shoah das Versöhnungshandeln Christi in Frage gestellt wurde. Denn kann eine Kirche, die solchen Verbrechen nicht öffentlich widersprochen hat, weiter glaubwürdig von der in Christus geschehenen Versöhnung der Welt reden!?16
Der Württembergische Pfarrer und spätere Theologieprofessor in Tübingen, Hermann