Windhauch und Wein. Georg Schwikart
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Ist das Nihilismus? Also die – wie der Duden sagt – „philosophische Anschauung von der Nichtigkeit, Sinnlosigkeit alles Bestehenden, des Seienden“? Eine „weltanschauliche Haltung, die alle positiven Zielsetzungen, Ideale, Werte ablehnt“? Geht es um die „völlige Verneinung aller Normen und Werte“? Aber nein, die Überlegungen des Autors finden wir ja mitten in der Heiligen Schrift.
Er denkt über die Welt nach – als glaubender Mensch! Das Wort ‚Gott‘ taucht zwar erst in Vers 13 auf, aber Gott ist die Grundlage seiner Existenz. Sein kritisches, ja vernichtendes Urteil führt ihn nicht zum Atheismus, im Gegenteil. Es bindet ihn noch mehr und existentieller an Gott.
Die Welt allerdings, in der er lebt und glaubt, die ist absurd! Da macht er sich nichts vor. Er ist ein großer Realist, hat den Mut, den Tatsachen ins Auge zu schauen.
„Es ist alles sinnlos und bedeutungslos“, sagt der Lehrer, „unnütz und bedeutungslos – ja, es ist alles völlig sinnlos.“ Was hat ein Mensch davon, wenn er sich sein Leben lang müht und plagt? Generationen kommen und gehen, doch die Erde ändert sich durch die Zeiten nicht. Die Sonne geht auf und geht unter und zieht ihre Bahn am Himmel, nur um an der gleichen Stelle wieder aufzugehen. Der Wind weht nach Süden, dann dreht er ab nach Norden, er weht hierhin und dorthin, er dreht sich und schlägt um und gelangt doch nirgendwo hin. Die Flüsse fließen ins Meer, trotzdem wird das Meer nicht voller. Das Wasser kehrt immer wieder zu den Quellen der Flüsse zurück, um dort neu zu entspringen. Alles Reden ist mühselig. Nichts kann der Mensch vollständig in Worte fassen. Das Auge kann sich niemals satt sehen und das Ohr kann nie genug hören. (Prediger 1,2–8)
Hier analysiert jemand trocken seine Existenz. Ohne die Realität an großen Idealen glattzuschleifen. Er schwärmt nicht von der phantastischen Schöpfung, wie wunderbar und herrlich alles sei. Er fragt provozierend: Wofür das alles?
Wie gut, dass sein Buch in der Bibel zu finden ist. Manchem Gläubigen wird der bittere Tonfall unangenehm aufstoßen. Dieses Werk verhindert die bigotte Überheblichkeit, dass es für jene, die an Gott glauben, keine Schwierigkeiten mehr gäbe. Hier wird der Gegenbeweis angetreten. Vielleicht wirkt sogar auch alles nur noch schlimmer, weil die Wirklichkeit so schwer mit dem Vertrauen auf den guten Gott vereinbar ist.
Im Jahr 1652 reimte Michael Franck 13 Strophen eines Liedes, von dem acht im evangelischen Gesangbuch zu finden sind: „Ach wie flüchtig, / Ach wie nichtig / Ist der Menschen Leben! / Wie ein NEBEL bald / entstehet / Und auch wieder bald vergehet, / So ist unser LEBEN, sehet!“ Der „liebe Gott“ kommt nicht drin vor. Die Nichtigkeit allen Strebens wird ausführlich beschrieben. „Leben“ wird rückwärts gelesen zu „Nebel“, zu Dunst. Die Anlehnung des Liederdichters an unseren Denker aus der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, ist offensichtlich.
„Es ist alles sinnlos und bedeutungslos.“ Ein hartes Wort. Aber das darf man so sehen, das darf man so sagen. Gut biblisch, gut christlich. Wie beruhigend, dass einer ausspricht, was ich kaum zu denken wage. Ich fühle wie er, halte es aber kaum aus. Deswegen möchte ich mich mit seiner Ansicht auseinandersetzen.
Ich danke ihm – und ich danke Gott, dass er uns diesen Autor geschenkt hat: Kohelet, den Prediger.
Kohelet versammelt Wahrheitssucher
Wer ist dieser Mann, dessen zugespitzte Gedanken es geschafft haben, in die Bibel aufgenommen zu werden? Wir wissen kaum etwas über ihn. Sein Name ist kein Name, sondern eine Bezeichnung: Kohelet bedeutet etwa „Versammler“ oder „Anführer der Versammlung“ und steht für jemanden, der in einer Versammlung seine Lehre vorträgt. So wurde sein Werk auch als das Buch „Prediger“ bekannt. Das Buch Kohelet selbst gibt vor, sein Autor sei Salomo:
Dies sind die Worte des Lehrers, des Sohnes des Königs David, der in Jerusalem herrschte (Prediger 1,1). Ich, der Lehrer, war einst König in Israel und regierte in Jerusalem (Prediger 1,12). Ich sagte mir: „Es ist so: Ich bin weiser als alle Könige, die vor mir in Jerusalem regiert haben; ich habe viele Erfahrungen gesammelt und eine Fülle an Weisheit und Erkenntnis erworben“ (Prediger 1,16). Der Lehrer war ein weiser Mann und er gab seine Erkenntnisse an die Menschen weiter. Er vertiefte sich in die Lehre und forschte darin. Auch verfasste er viele Sprüche. Er versuchte, einprägsame Worte zu finden und nur das zu schreiben, was der Wahrheit entspricht (Prediger 12,9–10).
Darüber sind sich die Bibelwissenschaftler allerdings einig: Das Buch Kohelet wurde erst 500 Jahre nach der Zeit des Salomo verfasst; das kann man an Merkmalen seiner hebräischen Sprache feststellen. Wahrscheinlich ist das Werk im 3. Jahrhundert vor Christus entstanden. Sein Autor war zwar nicht jener König der legendären Weisheit, aber ein überaus intelligenter und origineller Denker. Er kannte sich mit der jüdischen Weltanschauung aus, aber auch mit griechischer Philosophie. Zudem beherrschte er die Kunst der Dichtung.
Kohelet scheint bei seiner Leserschaft das Wissen um jüdische Glaubensgrundlagen vorauszusetzen, denn die traditionellen Inhalte streift er höchstens. Wie ein Vorläufer der Reformation ignoriert er weitgehend den Komplex religiöser Opfer und den Kult. Er bringt einen ganz neuen Ton in die biblische Erbauungsliteratur, behauptet allerdings, damit verschaffe er nur dem eigentlich Alten und Unwandelbaren wieder Geltung.
Ob der Mann verheiratet war oder nicht, welchen Beruf und welche Stellung er innehatte, wo er lebte (Jerusalem oder vielleicht Alexandrien?) – all das wissen wir nicht. Sein Buch jedoch gehörte bald schon zum Katalog der Schriften, die man als Gebildeter des Volkes Israel gelesen haben musste. Sogar in den Höhlen von Qumran fand man zwei Kohelet-Fragmente.
Fachleute diskutieren, ob der Prediger sich an Positionen seiner Zeit abgearbeitet hat oder jüdisches mit griechischem Denken verbinden wollte. Sein Schwanengesang auf die israelische Weisheit bleibt brisant. 1759 wurde sein Buch in Paris als ketzerisches Werk verbrannt; man hatte den Übersetzer Voltaire für den Autor gehalten.
An der philosophiehistorischen Debatte kann ich mich mangels Wissen nicht beteiligen. Ich lese Kohelet schlicht als Botschaft an mich heute. Ich fühle mich von seiner Art, die Welt zu betrachten und zu reflektieren, unmittelbar angesprochen. Er ist ein Realist und dabei ein glaubender Mensch. Seine Religiosität wirkt so anders als gewohnt. Das hat viele fromme Kritiker über die Jahrtausende gegen ihn aufgebracht. Wie wichtig er bis heute ist, drückt der Theologe Norbert Lohfink aus: „Für manchen modernen Agnostiker ist Kohelet die letzte Brücke zur Bibel. Es gibt heute Christen, für die ist Kohelet die verrucht-beliebte Hintertür, durch die sie jene skeptisch-melancholischen Empfindungen ins Bewusstsein einlassen können, denen am Haupteingang, wo Tugendpreis und Jenseitsglaube auf dem Namensschild stehen, der Zugang nicht gestattet würde.“
Die Auseinandersetzung mit Kohelet ist ein Vergnügen: Mal schenkt er mir neue Ideen und ungewohnte Perspektiven. Mal unterstreicht er das, was ich immer schon dachte, wofür ich aber keine Worte fand. Mal bringt er mich auf die Palme, weil ich seine Ansichten so abstrus finde und ablehne. Aber sich mit diesem Weisheitslehrer auseinanderzusetzen ist immer lohnenswert. Der Dichter-Pfarrer Kurt Marti kommentierte: „Im Büchlein Kohelet sind Passagen zu finden, die einem tief ‚einfahren‘ können, weshalb ich mir erlaubte, vom ‚Kohelet Blues‘ zu sprechen. […] Heute noch können sie uns vom Wahn der eigenen Wichtigkeit oder gar Unsterblichkeit befreien.“
Es gibt kein „Evangelium nach Kohelet“; der Mann ist weder Prophet noch Messias – aber eine herausragende Stimme der Heiligen Schrift. Was er uns bis in die Gegenwart hinein zu sagen hat, das konfrontiere ich hier mit meiner Lebenswirklichkeit. Nicht nur als Pfarrer oder Religionswissenschaftler, sondern als normaler Christ. Als einer, der an Gott glaubt. Wie Kohelet. Nur anders.