Windhauch und Wein. Georg Schwikart

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Windhauch und Wein - Georg Schwikart страница 4

Автор:
Серия:
Издательство:
Windhauch und Wein - Georg Schwikart

Скачать книгу

Ob alles, was er schrieb, „der Wahrheit entspricht“ – das zu beurteilen maße ich mir nicht an. Die Wahrheit ist noch einmal größer als alles, was wir zu denken und aufzuschreiben vermögen. Sie aber zu suchen und um sie zu ringen, dafür sollte uns keine Mühe zu anstrengend sein. Dafür „sammle“ ich mich gern und bedenke das Buch des Versammlers.

       Nichts Neues?

      Unsere Tochter ist eine junge Frau, die, wie das für ihr Alter üblich ist, Freude hat an neuer Bekleidung. Weil es so mühsam ist, in der Stadt von Laden zu Laden zu laufen, wird im Internet bestellt. Unsere Tochter wohnt schon lange nicht mehr zu Hause, aber die Pakete kommen ins Elternhaus; wir sind ja immer da … Die Tochter packt aus, probiert an, zu klein, zu groß, die Farbe anders als auf der Bestellseite, der Stoff fühlt sich nicht gut an. Egal, zurück in den Karton. Und ich darf dann die Rücksendungen zur Post bringen.

      Natürlich passt das eine oder andere neue Teil doch und bereitet Freude. Aber wie lange ist ein neues Kleid neu? Wann ist der Reiz des Neuen verflogen? Die neue Tapete ist irgendwann auch alt. Wir suchen das Neue, weil wir die Abwechslung lieben: neue Speisen, neue Reiseziele, neue Filme. Wir wollen neue Leute kennenlernen.

      Zeitungen und Nachrichtensendungen leben von Neuigkeiten. Der amerikanische Literaturnobelpreisträger William Faulkner behauptet hingegen: „Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden.“ Vielleicht ist er von sich aus auf diese Erkenntnis gekommen, doch neu ist sie nicht, denn schon Kohelet sagt das Gleiche:

      Was einmal gewesen ist, kommt immer wieder, und was einmal getan wurde, wird immer wieder getan. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Gibt es eigentlich irgendetwas, von dem man sagen könnte: „So etwas gab es noch nie!“? Nein, alles gab es schon irgendwann einmal – in längst vergangenen Zeiten. Wir haben nur vergessen, was damals geschehen ist. Und in einigen Jahren wird man sich nicht mehr an das erinnern, was wir jetzt tun. (Prediger 1,9–11)

      Natürlich wiederholen sich Biografien. Von der Geburt bis zum Tod ist die Variationsbreite der Lebensläufe auf der Erde zwar unendlich groß, aber Parallelen gibt es dann doch. Kindheit, Schule, Beruf, Partnerschaft, Familie, Alter – das alles ist nicht neu. Nur für den Einzelnen ist es jeweils eine neue Erfahrung.

      Gibt es in der Menschheitsgeschichte etwas Neues? Läuft da nicht ein ewig gleicher Prozess von Werden und Vergehen ab? Kulturen entstehen und verschwinden wieder. Kriege und Katastrophen vernichten alles, aus den Trümmern wächst Neues. Das Neue aber bleibt nicht neu. Die Erkenntnis, dass sich alles verändert, ist es auch nicht.

      Und doch! Der christliche Glaube tritt mit diesem ungeheuren Anspruch auf: Da ist etwas wirklich Neues passiert. Das Christentum selbst wird in der Apostelgeschichte als „der neue Weg“ bezeichnet: „Saulus verfolgte immer noch die Jünger des Herrn und drohte ihnen mit Gefängnis und Hinrichtung. Er ging zum Obersten Priester und bat um eine schriftliche Vollmacht für die Synagogen in Damaskus. Dort wollte er die Anhänger des neuen Weges aufspüren. Er wollte sie, Männer wie Frauen, festnehmen und nach Jerusalem bringen“ (Apostelgeschichte 9,1–2).

      Ironie der Geschichte oder, wie ich besser sagen sollte, Wirken des Heiligen Geistes: Aus Saulus wird Paulus, aus dem Verfolger der größte Missionar. Paulus ist den neuen Weg gegangen und hilft bis heute Menschen, auf diesem Weg voranzukommen. Paulus erfuhr eine dramatische Lebenswende durch seine Begegnung mit Jesus Christus, sein Leben wurde absolut neu!

      Was Kohelet dazu gesagt hätte? Vielleicht: „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Das meint meine Tochter auch schon mal. Ich reagiere dann ziemlich belehrend: „Es gibt Dinge, die können wir uns nicht vorstellen – und sie geschehen doch.“

       Der Reiz des Krummen

      Elisabeth ist erfahrene Ärztin in einem Klinikum, bei Patienten und Kollegen gleichermaßen geschätzt. Als Mitglied der Ethik-Kommission berät sie in komplizierten Fällen, was medizinisch angemessen und menschlich vertretbar ist. Elisabeth sieht nicht nur die Erkrankung, sondern den ganzen Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit. In ihrer eng bemessenen Freizeit liest sie viel, um das Mysterium Mensch besser zu verstehen. Sie hält zahlreiche soziale Kontakte aufrecht und bleibt mit ihrer Kirchengemeinde in Verbindung, denn sie empfindet das Leben als Geschenk Gottes. Elisabeth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt eine zufriedene bürgerliche Existenz. Auf einmal verliebt sie sich in den Medizinstudenten Robert. Eine amour fou!

      Ihre moralischen Skrupel wühlen sie auf. Doch das Abenteuerliche an dieser geheimen Beziehung erfüllt Elisabeth mit Energie und Freude. Sie genießt Zärtlichkeit und Sexualität, wie sie sie nie zuvor in ihrer Ehe erlebt hat. Die unbeschreibliche Nähe zu ihrem Liebhaber taucht ihr ganzes Dasein in ein neues Licht.

      Ich bemühte mich, mithilfe meines Verstandes die Dinge zu erforschen und zu erkunden. All mein Streben galt der Weisheit, denn mit ihrer Hilfe wollte ich ergründen, was in der Welt geschieht: Es ist eine mühsame Arbeit, und Gott hat sie den Menschen auferlegt, damit sie sich damit quälen. Ich habe die Menschen bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Es ist alles sinnlos und gleicht dem Versuch, den Wind einzufangen. Was krumm ist, kann nicht gerade werden, und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden. (Prediger 1,13–15)

      Lange habe ich mit Elisabeth zusammengesessen und zugehört. Sie, die so viel mit Hilfe ihres Verstandes erforscht und erkundet hat, fühlt sich von etwas überwältigt, was fern ihrer Vorstellungskraft lag. Die Wucht der Emotionen scheint sie – die doch in so gewohnten und sicheren Bahnen zu laufen schien – aus der Spur zu werfen. Sie will verstehen, was da geschieht, in ihrer kleinen Welt, die auf einmal kopfsteht. Ihren Mann zu verlassen steht nicht zur Debatte, ebenso wenig alles aufzugeben, was sie sich aufgebaut hat. Nur wenige wissen von ihrer Situation.

      Ihr auffallend jüngerer Geliebter drängt sie nicht zu einer Entscheidung. Robert ist in einem anderen Milieu zuhause als Elisabeth, bevorzugt andere Freizeitaktivitäten, betrinkt sich schon mal und hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus als sie. Er lebt ein anderes Leben. Er sieht gut aus und könnte viele Frauen seines Alters haben. Aber er liebt Elisabeth. Er zeigt sich ihr gegenüber schamlos, ohne Scham, in einer Vertrautheit, die Elisabeth fasziniert. Diese Leidenschaft.

      Das alles zu begreifen gelingt beiden nicht, was für Robert kein Problem darstellt, wohl aber für Elisabeth. Die Situation quält sie. Die erfahrene Ärztin kennt sich selbst nicht wieder. Was sind das für romantische, animalische, egoistische Anwandlungen, die sich da ihrer bemächtigen? Muss sie sich schämen? Sündigt sie gegen Gott? Gegen ihren Mann, der nichts ahnt … oder doch? Die Lust zwischen beiden kühlte ziemlich ab in den letzten Jahren. Vielleicht schweigt er in stillem Einverständnis? – Diese Fragen nagen an ihr.

      Was Elisabeth mir offenbart, beschließt sie mit dem Satz: „Es ist doch alles sinnlos, was da läuft!“

      Ist Sinn hier die passende Kategorie? Ihr wird etwas gefehlt haben, was sie nun genießt. Allerdings hat dieser Genuss seinen Preis. Selbstverständlich ist ihr bewusst, diese Geschichte wird nicht ewig dauern. Doch jetzt prägt sie ihre Realität. Das Verhältnis mit Robert ist nichts für die Ewigkeit. Es ist vergänglich, doch jetzt schön. Und problematisch. Zumal für eine Frau, die ihr Leben – wie sie sagt – in Gottes Hand gelegt hat.

      Kohelet kommentiert: Es bleibt krumm und kann nicht gerade werden. Doch Paul Claudel tröstete: „Gott schreibt auf krummen Linien gerade.“

       Rom im November

      Sie gleicht

Скачать книгу