Hybridtheater. Thomas Oberender
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Ein neues Worldbuilding
Das Theater des archaischen und mechanischen Zeitalters hat eine eigene Hochtechnologie hervorgebracht: Dramen, Stücke und die gerahmte Bühne sind seine über Jahrhunderte perfektionierten Instrumente und sie werden nicht veralten. Sie werden weiter funktionieren wie die symphonischen Orchester des 19. Jahrhunderts und zu Teilen in Strukturen eines anderen Worldbuildings aufgehen. Diese neuen Theaterformen sind weniger literaturbasiert, auch wenn sie raffinierter geskriptet sind. Die neue Rolle des Skripts, das die Begegnung zwischen den Besucher*innen und dem Werk partizipativer und symbiotischer gestaltet, korrespondiert mit den Herausforderungen, vor denen unsere hochgradig vernetzte Kultur insgesamt steht: „Gesucht sind Ordnungen“, schreiben Ruedi Widmer und Ines Kleesattel in ihrem Reader Scripted Culture, „in denen sich Vorstellungen der Gleichverteilung von Macht („distributed“, „dezentral“) mit Vorstellungen des freien Fließens von Daten und Informationen sowie solchen des Schutzes vor Manipulation („Blockchain“) verbinden. Die in der realen Digitalisierung, Globalisierung und Ökonomisierung liegenden Formen der Durchdringung und Entgrenzung werden als Probleme gesehen, denen man, wenn überhaupt, durch die Verbesserung dessen, was bei Galloway Protokoll heißt, beikommt.“1
Diese Protokolle bewirken und managen zum Beispiel die strukturelle Verflüssigung und Molekularisierung der Öffentlichkeit oder steuern im Hybridtheater den Chat und die Abläufe und Zugänge in einem virtuellen Theaterraum. In der künstlerischen Produktion erlauben sie das Entstehen von symbotischen, partizipativen Welten, die inklusiv sind und in Echtzeit die verschiedensten Akteur*innen und Technologien verbinden und im eigentlichen Sinne nur noch Akteur*innen unterschiedlichen Grades kennen. Hier ist jeder und jede mittendrin, aber viele Elemente der technologischen Struktur sind interaktiv und mit verschiedenen Programmen vernetzt. Ein Wesenszug dieser neuen Theaterformen ist eine transhumane Vision, die das Funktionieren der symbiotischen Systeme schildert – und nicht des Menschen. In ihnen trifft die Zeitlosigkeit der digitalen Medien, in denen alles präsent bleibt, auf die Augenblicklichkeit des Geschehens und inszeniert diese Begegnung. Während die Programme der linearen Medien kuratiert sind und in der Zeit vergehen, liegen, so der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, die digitalen Angebote zeitlos wie Minen im Raum und warten auf ihre Begegnung mit dem Publikum. Und so verhält es sich auch mit den digitalen Theaterwelten – selbst da, wo sie analog inszeniert sind, aktivieren sie ihre Inhalte erst durch die aktiven Gesten des Publikums. Jede Aufführung in den Narrative Spaces von Mona El Gammal beruht auf diesem Skript verborgener Optionen, die von den Besucher*innen im analogen Raum ausgelöst werden.
In den kommenden Jahrzehnten können im digitalen Raum Schauspieler*innen, die gestorben sind, wieder erscheinen und nun neue Rollen spielen – sie können Texte sprechen, die sie nie gesagt haben, und das in jeder Sprache und in jeder physischen Gestalt. Wie in dem Science-Fiction-Film The Congress von Ari Folman, in dem die Schauspielerin Robin Wright in den besten Jahren ihrer Karriere dazu gezwungen ist, die Rechte über ihre Erscheinung an einen Medienkonzern abzutreten, der sie fortan in einer digital animierten Produktionswelt noch zu ihren Lebzeiten weiterarbeiten lässt – ohne dass sie jemals wieder vor einer Kamera stehen muss. Die Frage danach, wer spricht, wird sich anders beantworten, genauso wie die nach dem Was und dem Wo. Bereits heute ist es unklar und oft unwichtig, wer auf Imageboards wie 4chan mit seinen anonymen Posts ohne Login und Registrierung spricht.
Das Genre der Science-Fiction, sagte die Autorin Ursula Le Guin, ist gegenwartsbeschreibend, nicht prognostisch. Es formuliert, was heute evident ist, nicht was kommt: „Der Zweck eines Gedankenexperiments – als ein Begriff, wie er von Schrödinger und anderen Physikern verwendet wurde – besteht nicht darin, die Zukunft vorherzusagen“, so Le Guin. „Schrödingers berühmtestes Gedankenexperiment zeigt, dass die ‚Zukunft‘, auf der Quantenebene, nicht vorhergesagt werden kann; aber es beschreibt die Realität, die gegenwärtige Welt. Science-Fiction ist nicht vorhersagend, sondern beschreibend.“2
Die Digitalkultur macht sich heute im Gegenwartstheater auf unterschiedliche Weise bemerkbar: Erstens als ein anderes mindset, als eine neue Perspektivierung unseres Denkens und unserer individuellen Verortung in der Welt, die nicht mehr grundsätzlich menschen-bezogen und menschengeneigt ist, wie Wolfgang Welsch dies formulierte.3 Felix Stalder beschreibt in seinem Buch Kultur der Digitalität, wie sich dieses mindset schon in der frühen Neuzeit herausgebildet und mit Aspekten wie Quantifizierung und Algorithmisierung verbunden hat. Zweitens zeigt sich die Digitalkultur im Vorhandensein eines digitalen Raums. In ihm hat das „Soziale“ oder „Gesellschaftliche“ eine andere Bedeutung. Er wird von der Tendenz des Internets zur Gamifizierung geprägt, von der Wettbewerbsorientierung, Fiktionalisierung und Affektorientierung der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen. Drittens sind es die Echtzeit-Technologien, die hybride oder vollständig virtuelle Realitäten schaffen und zugänglich machen. Damit verbunden ist ein Überschwappen der digitalen Sphäre in die physische, realkörperliche Wirklichkeit und vice versa – inhaltlich, habituell, kommunikativ und politisch.
Diese Kennzeichen der Digitalkultur prägen nun digitale Theaterformen, die analog realisiert werden, hybrid oder rein virtuell. Virtuelles Theater ist es vollumfänglich dann, wenn Publikum und Performer*innen in Echtzeit im gleichen digitalen Raum sind. Mit den alten Technologien war dies bislang unerschwinglich – die Weiterentwicklung von Rechnern und Software hat das verändert. Auch das mit dieser Entwicklung verbundene operative Know-how nimmt auf Seiten der Künstler*innen und Institutionen beständig zu. Parallel zu diesem rein virtuellen Theater entstehen im freien und institutionalisierten Theater weit häufiger hybride Formate. Sie beruhen auf unterschiedlichen technischen Zugängen und besitzen unterschiedliche Gewichtungen zwischen dem rein Virtuellen und dem physisch Präsenten.
Hybride Theaterformen finden zeitgleich online und offline statt. Sie entwickeln für das Publikum im Saal und online nicht nur simultan unterschiedliche Beteiligungsformen, sondern auch unterschiedliche Modi der körperlichen Präsenz und Verhaltensweisen. Dennoch spielt der physisch präsente Körper in ihnen eine besondere Rolle und verankert das Geschehen. Denkbar ist, dass vollumfänglich virtuelle Theaterformen in Zukunft nicht mehr komplett und ausschließlich von Menschen generiert werden und sich daher mit Fragen nach einem Theater ohne Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Text verbinden. Was passiert, wenn all das von der KI kommt? Wer „macht“ das dann? Diese Fragen werden in den hybriden Theaterproduktionen von Arne Vogelgesang bereits sichtbar.
Empirie im digitalen Empire
Seit 2005 realisiert Arne Vogelgesang mit dem Theaterlabel internil und unter eigenem Namen freie Theaterprojekte, die mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien, Fiktion und Performance experimentieren. Mit seiner Kollegin Marina Dessau und anderen realisiert er Projekte und Workshops, die auf dem Umgang mit dokumentarischem Material basieren, das sie auf YouTube und anderen Plattformen gefunden haben und im Theater live reenacten. „Unser künstlerisches Verfahren als Performer*innen ist es also“, so Vogelgesang, „die zusammengeschnittenen und collagierten Dinge, die wir recherchiert und in einen dramaturgischen Zusammenhang gebracht haben, mit technischen Mitteln einzuspielen und mit einer Sekunde Verzögerung nachzusprechen. So schlagen wir die Brücke zwischen Dokument und Gegenwart, zwischen Netz und Theaterraum, mit unseren eigenen Spielkörpern.“4
In den Videodokumenten seiner Recherchen, die er in seinen Lectures und Aufführungen zeigt, werden digitale Protogesellschaften sichtbar, die wie ein virtuelles „Ausland“ erscheinen – sie spielen mit unbekannten Formen der Selbstinszenierung, der Fiktionalisierung unserer analogen und biologischen Welt „draußen“ und der wirklichen Emotionalität der sozialen