Hybridtheater. Thomas Oberender
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Hybridtheater - Thomas Oberender страница 3
Seine Arbeit zeigt den digital playground als relativ unzensiertes Experimentierfeld unterschiedlicher Gruppen und Akteur*innen im digitalen Raum. In den Insider*innen-Foren der menschlichen Netzgemeinschaften entwickelt sich unsere Praxis der Liebe, Politik, Spiritualität oder Ökonomie weiter und spitzt sich zu. Vogelgesangs Recherche ist aber auch eine Form zeitgenössischer Theaterforschung, des Abgleichs physischer Spielwelten mit denen reiner Virtualität. Sie eröffnet uns viele Fragen: Wieso ist in vielen Internet-Communitys die Theatermetapher so en vogue? Wie funktioniert die mediale Kreislaufwirtschaft zwischen digitaler und physischer Welt? Gibt es eine neue Art von politischer Entertainment-Kultur im Netz, andere Formen von Verständniskunst? Welche Politiken hat Kunst nach dem Agitprop-Theater aus der Zeit Brechts, des Living Theatre oder Schlingensiefs heute anzubieten? Die Mechanik der sozialen Medien beruht, wie das Theater, auf Erregung, aber in ihnen ist alles zugleich ernst und nicht nur „als ob“. Was bedeutet das für das Theater? Wie unterscheidet sich die Konstruktion von Identität als Machtfaktor in den sozialen Medien von der im Theater? Wie entstehen und beglaubigen sich Rollenbilder in den sozialen Medien? Was sind und tun truther und baker in dieser Welt? Kann man die Austauschkultur auf 4chan als Avantgardetheater betrachten? Was verbindet solche Spiele mit dem DAU-Projekt von Ilya Khrzhanovsky? Ist das politische Projekt der Fake-isierung von Wirklichkeit bei QAnon etwas anderes als die Inszenierung von Wirklichkeit im „wirklichen“ Theater? Und ist eine Form von hergebrachtem Theater denkbar, die ähnlich community driven funktioniert wie ein alternate reality game? Wie können sich diese Spiele ohne wirklichen Plot nur mit einem plot device am Leben erhalten? „Dont dream it – be it“ – war das nicht Julian Becks Traum vom Theater? Wenn Insider*innen-Plattformen ein kollektives Subjekt erschaffen, stirbt damit die Figur oder nur das Individuum? Was ist Surkows diskordianistisches Theater und wo findet es statt?
Nur langsam baut sich ein neues Verständnis davon auf, was heute eine Figur, ein Stoff und eine Vorstellung ist – verändert durch die Erfahrungen im Netz und den digitalen Spielwelten. So beschreibt Vogelgesang das theatrale Milieu der Reichsbürger*innen und ihren Versuch, mitten in unserem Land eine „Theaterrepublik“ zu gründen, also einen von ihnen selbst ausgerufenen Staat, den sie mit Theatermitteln inszenieren und für „echt“ halten, weil sie die politische Realität der Bundesrepublik für Theater halten. Er entdeckt in diesen Netz-Milieus neue Figuren wie „natürliche Personen“, „Selbstverwalter*innen“ oder „Querdenker*innen“, die spezifischen Narrationen und Spielszenarien folgen, ohne sie selbst für ein Spiel zu halten. Seine Theaterprojekte bringen die Theatralität dieser Videodokumente auf der Bühne wieder in eine Verbindung mit dem physischen Körper des Performers. So wird es reenactet, durchfühlt, durchdacht, als das Andere nachvollziehbar, erlebbar, kommentiert und Teil einer divergierenden szenischen Konstruktion. Vogelgesangs Klimawandel-Stück Es ist zu spät adaptiert zum Beispiel den digitalen Fakten-Stream der Katastrophe und kreiert den fiktionalen Charakter eines Influencers, dessen aufgezeichnete Netz-Performance auf der Bühne live vom Urheber und Darsteller der Figur nachgespielt wird. Wobei diese Wiederbegegnung der Figur mit ihrem Erfinder und Double sich auf der Theaterbühne nicht nur für dessen Eingebungen öffnet, sondern auch für den Input des Publikums am Bildschirm, das via Chat die Vorgänge kommentieren und die Kameraperspektive verändern kann.
Symptome des digitalen Zeitalters
Es ist also vieles „hybrid“ an dieser Aufführung – gebündelt, gekreuzt und durchmischt ist nicht nur das zeitgleiche Geschehen auf der physischen und digitalen Bühne. In unseren Gesprächen beschreibt Arne Vogelgesang verschiedene Merkmale des digitalen Zeitalters, wie sie sich in seiner Arbeit zeigen. Zum einen formalisieren sie das Verhältnis zwischen Werk und Publikum anders und bieten dafür partizipative Regeln an. Diese Regeln sind systemisch organisiert – sie verknüpfen die Akteur*innen untereinander und mit den unterschiedlichen Protokollen, die in der technologischen Einrichtung der Mise en Scène wirksam sind, um das Wort „Inszenierung“ an dieser Stelle bewusst zu vermeiden.5 Hybride Aufführungen entwickeln so ein anderes Theaterdisplay, das seine eigene mediale Konstruktion und „Scheinhaftigkeit“ offen zeigt. Als reflektiertes Spiel ist es auf einer Ebene seines Geschehens stets reaktiv, nicht nur auf der sozialen Ebene der Begegnung mit dem Publikum, sondern auch hinsichtlich des Inputs von Komponenten, die von digitalen Protokollen bestimmt werden. Die Aufführung organisiert dafür ein symbiotisches System, in dem der Performer mit seiner Figur, aber auch die Zuschauer*innen im Chat mit ihm und auch untereinander kommunizieren können. Sie werden aktiv wahrgenommen und können sich zwischen unterschiedlichen Sichtweisen des Geschehens entscheiden. Eine solche Option, das lineare „Sendegeschehen“ der Performance zu durchbrechen, hat Vogelgesang in früheren Arbeiten bereits rein analog hergestellt, indem er ritualhafte Performanceregeln aufstellte, die dem Publikum die Möglichkeit gaben, die Dauer der Aufführung gruppendynamisch selbst zu bestimmen. Auch solch ein analoges Verfahren für multilaterale Partizipation ist für ihn ein Symptom des digitalen Zeitalters.
Auf der Ebene von Darstellung bedeutet die Hybridisierung von Aufführungsformen die Implementierung von Feedbackstrukturen in diese – die Darstellung beginnt, sich selbst zu betrachten. Prinzipiell begann dies bereits mit der simultanen Bühne des Videobildes, das zum Beispiel in Frank Castorfs Aufführungen das aktuelle Bühnengeschehen in Echtzeit in der anderen Sichtweise des Videos zeigte. In den Stücken von internil hat diese Aufnahme in gewisser Weise schon stattgefunden und das Echtzeitgeschehen ist das Live-Reenactment der Aufzeichnung, die wiederum parallel live gestreamt und neben den Beobachter*innen im Saal auch den Follower*innen am Bildschirm zugänglich ist.
Das klassische Regiebuch als ein Meta-Skript zum Text des Stückes enthält die akribischen Notate jener vielen kleinen Entscheidungen, die den Text eines Stückes und die Einrichtungen auf der Ebene von Ton, Licht und Ausstattung auf der Bühne zur Handlung einer Gruppe von Menschen werden lassen. Auf der digitalen Ebene des Hybridtheaters schreiben die Leute im Chat das Regiebuch der Szene, das ebenfalls Handlungsanweisungen wie zum Beispiel einen Kamerawechsel in der Aufnahme des Streams beinhaltet. Das bedeutet eine Transformation des Publikums und der szenisch Handelnden – in diesem System werden sie Akteur*innen und nehmen zudem Einfluss auf das Skript des für sie partiell offen zugänglichen Geschehens. So wird unsere traditionelle Theaterwelt davon erfasst, was für Influencer*innen grundlegend und üblich ist – nämlich dass sie sich zurückmelden, dass sie Reaktionen aufnehmen, wie im „Theatersport“ und damit umgehen, dass nicht nur sie zu ihren Follower*innen kommen, sondern auch diese zu ihnen und das Environment der Mise en Scène das entsprechend vorsieht. Das Konzept der Theaterregie als Modell der zentralisierten Herrschaft und Augpunkt im Saal trifft in der Wirklichkeit unseres digitalen Zeitalters auf Strukturen, die Regie nicht mehr als einen endlichen Vorgang der Einrichtung begreifen, sondern des permanenten Mitspielens, Anwesendbleibens. Die Regisseur*innen gehen im Hybridtheater nach der Premiere nicht mehr nach Hause, sondern performen allabendlich mit im Team und öffnen das Regiebuch für andere. Das können Menschen sein, aber auch digitale Dienste, die mediale Inhalte algorithmisch vermitteln und filtern.
Systemschaffend ist jedes Kunstwerk, doch vom traditionellen Black-Box-Theater unterscheidet sich ein Stück wie Es ist zu spät durch seine neuen Beteiligungs-Regeln. Das