Es ist kalt in Brandenburg. Niklaus Meienberg

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Es ist kalt in Brandenburg - Niklaus Meienberg

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getäuscht, geprellt, hintergangen; töten wollte er auch. Strafgesetzbuch und Bibel, die in der wohlbeleumdeten Familie Bavaud hochgehalten wurden, hat er souverän ausser Kraft gesetzt während seiner Deutschlandreise. Was gab ihm die Kraft, den christlich-bürgerlichen Schatten zu überspringen?

      Nichts in seiner Vergangenheit hat ihn für diese Reise prädestiniert. Er wurde nicht jesuitisch erzogen, sondern von den Frères de l’Ecole chrétienne in Neuchâtel und später von den Pères du Saint-Esprit in Saint-Ilan. Und doch hat er später zu Protokoll gegeben:

      Dass er sich die Mittel zu der Reise nach Deutschland durch Diebstahl zum Nachteil seiner Eltern verschafft habe, sei ihm in Hinsicht auf sein Ziel nicht so verwerflich erschienen und werde auch durch sein Vorhaben einigermassen bei ihm moralisch gerechtfertigt. (Urteilsbegründung)

      Geld war nötig für die Reise, und als es ihm ausgegangen war …

      sein Vorhaben habe er schliesslich in Bischofswiesen am 12. November 1938 nur deshalb aufgegeben, weil er kein Geld mehr gehabt habe. Andernfalls hätte er noch weiter abgewartet, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit zur Ausführung des geplanten Mordanschlages geboten hätte. (Urteilsbegründung)

      Zum Reisen braucht es auch einen Pass. Dieser war abgelaufen, Bavaud liess seine Gültigkeitsdauer am 4. Oktober 1938 bis zum 4. November verlängern. Dann stahl er das Geld bzw., wie die Akten sagen,

      beschaffte er sich die erforderlichen Geldmittel dadurch, dass er sich auf Grund seiner genauen Ortskenntnis den zweiten Schlüssel zu dem im Geschäft seiner Mutter befindlichen Geldschrank aneignete und dann aus diesem den Betrag von etwa 600 Schweizer Franken entwendete.

      Die Mutter betrieb ein kleines Gemüsegeschäft, der Sohn hatte in den Ferien ein bisschen ausgeholfen, deshalb die genaue Ortskenntnis. Auf diesen Diebstahl kommen die Akten nochmals zurück, sorgenvoll vermerken sie seine Verwerflichkeit – nicht genug, dass einer den Führer erschiessen will, er klaut auch noch bei der eigenen Mutter! Die Richter, die ihn töten werden, sind beleidigt ob soviel Rücksichtslosigkeit, ihr Kummer scheint auf in den korrekt gebauten, sorgfältig gedrechselten Richtersätzen mit den vielen Relativpronomen.

      Am 9. Oktober, einem Sonntag, fuhr er morgens zwischen sechs und sieben Uhr nach Basel, besorgte sich dort eine Art von Traveller Checks, Reisekreditbrief nannte man es damals, im Werte von Reichsmark 555.–, und fuhr darauf nach Baden-Baden, wo er gegen vierzehn Uhr eintraf. In dieser Stadt hatte er Verwandtschaft, nämlich eine Grosstante, die Karoline Gutterer, geb. Nofaier. Zwischen den Bavauds in Neuchâtel und den Gutterers in Baden-Baden hatte zwar schon jahrelang kein Kontakt mehr bestanden, aber in der Not erinnert man sich der entferntesten Verwandten. Maurice kannte sonst in Deutschland keine Seele.

      Warum sich nicht ein wenig akklimatisieren beim deutschen Zweig der eigenen Familie, bevor man weiter in das unbekannte Land eindringt?

      Die Gutterers waren kleine Leute wie die Bavauds, Peter Gutterer figurierte in den Akten als Werkmeister, nach Feierabend war er Hauswart. Aber der Sohn Leopold, in den sie ihre Hoffnung setzten, hat es weit gebracht. Er war

      nach einem nicht abgeschlossenen Hochschulstudium, das unter anderem der Theaterwissenschaft galt, bereits 1925 der NSDAP beigetreten, fand dort eine hauptamtliche Stellung und wurde 1930 zum Gaupropagandaleiter in Hannover ernannt. Das «goldene Parteiabzeichen» wie das erhebliche Vorstrafenregister wegen in der Weimarer Republik begangener politischer Vergehen, das seine Personalakte «zierte», gereichten ihm ebenso zum Vorteil wie die hinlänglich bewiesene Fähigkeit, Massenaufmärsche wirkungsvoll arrangieren und inszenieren zu können. Schon 1937 wurde er zum Ministerialrat befördert, um im Jahr darauf mit der Leitung der Propagandaabteilung betraut zu werden, die vor dem Kriege als das wohl wichtigste Ressort des Ministeriums angesehen wurde. Am 20. April 1938 folgte die Ernennung zum Ministerialdirektor. (Willi A. Boelcke, Kriegspropaganda 1939–41)

      1941 ist er sogar Staatssekretär im Propagandaministerium geworden, am 16. Mai, zwei Tage nachdem sein Verwandter hingerichtet worden war. Doch 1944 stürzte er wieder in die Anonymität ab. Einer, der noch tüchtiger war im Gebrauch der Ellenbogen, verdrängte ihn, Gutterer wurde 1944 als Unteroffizier zu den Panzerjägern einberufen, obwohl er mit dem Titel eines SS-Brigadeführers dekoriert gewesen war.

      Er lebt immer noch.

      Ein amerikanischer Historiker, Gay W. Baird von der Miami University, hat ihn kürzlich besucht. Gutterer habe ganz offen gesprochen, einen Nachmittag lang. Gegen Ende des Interviews sei bei ihm die Emotion durchgebrochen, er habe sogar einige Tränen vergossen und «vom grossen Idealismus jener Tage, der unterdessen zerstört worden sei», erzählt. «This to me was curious, coming from an SS general», schreibt der Historiker in seinem Brief an Villi Hermann (22. 8. 1978).

      In derselben Verwandtschaft einer, der H. umbringen will, und ein anderer, der sich vor Eifer fast umbringt, um die Pläne von H. zu verwirklichen. Der grosse Idealismus jener Tage hat Spuren hinterlassen im Protokoll der Ministerkonferenzen des Reichspropagandaministeriums.

      6. November 1939. Herr Gutterer soll Erkundigungen über die Brotzuteilung an Strafgefangene und Zuchthäusler einziehen, da diese nach Berichten angeblich gegenüber den Arbeitern bevorzugt behandelt werden.

      (Damals sass Bavaud im Gefängnis Moabit, Untersuchungshaft.)

      8. November 1939. Herr Gutterer soll Material über die Verjudung der britischen Presse, der Bankwelt und der Regierungskreise zusammentragen lassen.

      Unter dem Motto «Es soll nicht jeder alles das kaufen, was ihm zusteht» soll in Rundfunk und Presse die Kauflust angegangen werden. Herr Gutterer erhält den Auftrag, sich für eine Sendung einzusetzen, die, zweimal wöchentlich unter dem Kennwort «Die deutsche Hausfrau spricht» gesendet, diese Fragen in Zwiegesprächsform behandeln soll.

      20. November 1939. Gutterer wird beauftragt, sich um die Beseitigung des Zigeunerwesens zu kümmern.

      19. Mai 1940. Der Minister beauftragt Herrn Gutterer, bei Stapo und Sicherheitsdienst darauf zu dringen, dass in den neu besetzten Gebieten, vor allem in Holland, sofort Jagd auf deutsche Emigranten gemacht wird.

      25. Mai 1940. Herr Gutterer soll zusammen mit Herrn Raskin ein Tagebuch eines englischen Gefangenen herstellen lassen, in dem Erlebnisse pornographischer Art aus Paris geschildert werden. Dieses Tagebuch soll dann über Frankreich abgeworfen und eventuell auch durch den Geheimsender ausgenutzt werden.

      (Protokoll der Geheimen Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966)

      Herr Gutterer kümmerte sich auch um Details, am 26. Mai schlug er vor, dass in den Kinos während der Wochenschauen die Türen geschlossen bleiben. Am 3. Juni wurde er beauftragt, am Wannsee alle englischen Grammophon-Platten zuzüglich Grammophon-Apparaten beschlagnahmen zu lassen und ihre Besitzer, wenn sie nicht «unabkömmlich» seien, in Arbeitskolonnen zu beschäftigen (das wird ihnen die Liebe zur deutschen Musik beibringen). Am 20. Juli sollte er sich darum bemühen, aus Italien weitere grosse Pfirsichmengen für Berlin aufzukaufen, da die erste Sendung zum Preis von 36–40 Pfennig das Pfund recht guten Absatz gefunden hatte. Es sollte aber dafür gesorgt werden, dass die Pfirsiche nicht in überreifem Zustand nach Deutschland kamen. Am 5. März 1941 wurde er vom Minister beauftragt, für die Juden in Berlin – «die wir augenblicklich nicht herausbringen können, weil sie als Arbeitskräfte unentbehrlich sind» – ein Abzeichen zu schaffen.

      Etc., etc., treu und fleissig, Pornographie und Pfirsiche, Emigrantenhatz und Wochenschau, Judenabzeichen und Hausfrauenbetreuung. Und immer Acht geben auf das Räuspern des Ministers, und keine Emotion zeigen, und die Sprache der Obern umsetzen für die Ohren des Volkes. Amtlich und korrekt. Kein Bluthund, nur ein Entwerfer von Reglementen,

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