Die Unbeirrbare. Barbara Kopp

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Die Unbeirrbare - Barbara Kopp

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des Lindenbergs, wo sich die Moore ausdehnen, durch die das Flüsschen Bünz nach Wohlen hinunter fließt. An klaren Tagen sieht man vom Dorfrand aus am Horizont die ersten Häuser von Wohlen, sehr zum Ärger von Gertrud, dennoch erscheint ihr der Ferienort unvergleichlich. Hier gehören die Heinzelmanns selbst zu den Landhausbesitzern, während sie in Wohlen von ihrer Mietswohnung aus zu den Villen der «Strohbarone» hinüberblicken. Zwar wirkt das Haus aus der Biedermeierzeit verglichen mit dem Eigentum der «Strohbarone» schlicht und unscheinbar, aber für Boswiler Verhältnisse ist es auch in Gertrud Heinzelmanns Kindheit ein feudaler Sitz. Im Dorf gibt es keine Fabrikschlote, keine schmucken Anwesen und keine Besuche ausländischer Unternehmer, stattdessen dominiert seit alters der Kirchturm über den Bauernhäusern, und aus der Ferne mahnt das Kloster Muri. Da fallen standesgemäße Extras ins Gewicht. Die Scheune, in der einst Pferde und Kutsche untergebracht waren, ist nicht wie bei einer Bauernbehausung an das Wohnhaus angebaut, sondern steht vornehm auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum weiteren Komfort des Hauses zählt in der Küche ein imitierter, antiker Brunnen mit fließendem Wasser. Auf dem Zwischenstock im Treppenhaus steht seit seiner Erfindung ein Wasserklosett. Hier gibt es keine dieser «senkrechten Kegelbahnen», wie Gertrud Heinzelmann die Holztoiletten nennt, die sich bei der Nachbarschaft im Hinterhof befinden. Im Frühling wachsen im Garten hinter Buchseinfassungen Spargeln, damals eine seltene und wenig bekannte Delikatesse. Im Herbst hängen in der Küche Rehe und Hasen aus der Jagd am Lindenberg, und im Glaskasten im oberen Stockwerk sind die Trophäen ausgestellt, besonders prächtige und seltene Vögel, die einst die Vorfahren in den Mooren geschossen hatten. – Soweit einige Annehmlichkeiten des gehobenen Lebensstils, der seinen Charme noch in Gertrud Heinzelmanns Jugend verbreitet.

      Die Instanz im Boswiler Anwesen ist Großtante Salesia Rietschi. Auch im Alter von sechzig Jahren ist sie eine gepflegte Erscheinung von schlichter Eleganz, großgewachsen und schlank, mit stets sorgfältig hochgesteckten Haaren. Im Familienkreis heißt es viel sagend: «Sie hat das Dröhtli.» Das bedeutet, sie zeigt aristokratische Haltung und trägt den Kopf majestätisch erhoben, als hätte sie zur Verstärkung einen Draht im Hals. Kein Vergleich mit Babeli Christen von Hinterbüel, ihrer Magd, die bei ihr ein Leben lang dient, Haus und Garten bestellt und von der harten körperlichen Arbeit immer gebückter wird. Salesia Rietschi ist die leibhaftige Summe einer familiären Vergangenheit, die glanzvoller war als die Gegenwart, und dem Abstieg hält sie die geistigen Werte früherer Generationen entgegen.

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      «Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

       Notiz von Gertrud Heinzelmann auf der Rückseite der Fotografie

      Grosstante Salesia Rietschi (ii) vor dem Familiensitz im aargauischen Freiamt, um 1930.

      Im Biedermeierhaus saßen im Salon einst die Vornehmen und Gebildeten aus der Region und tranken Tee aus feinem Porzellan. Im unteren Stockwerk befand sich die Praxis und die Apotheke des Hausherrn, des weltgewandten Bezirksarztes Johann Huber, der in der feuchten Umgebung der Moore und im nahen Kloster Muri viel zu kurieren hatte. Im Doktorhaus verkehrten die politisch Fortschrittlichen, Liberale und Freisinnige, die während des Machtkampfes zwischen modernem Staat und katholischer Kirche auf staatlicher Seite gekämpft hatten und wegen ihrer Gesinnung aus der Innerschweiz ins Freiamt flüchten mussten. Häufiger Gast war auch Niclaus Rietschi, ein Sprössling aus der Luzerner Stadtaristokratie, der zum Missfallen der Kirche das erste städtische Seminar für Töchter gegründet hatte und nach liberalen Vorstellungen leitete, bis er vertrieben wurde. Zurück ließ er Hab und Gut, in Kastanienbaum am Vierwaldstättersee die lauschige Villa Krämerstein, einst die Mitgift zu seiner Vermählung mit der florentinischen Aristokratin Salesia Falcini. Einer der Söhne fand im Boswiler Doktorhaus an einer Huber-Tochter Gefallen, und so heirateten sich Blaublütigkeit und der Name Rietschi ins Freiamt ein. Diese Ehe brachte zehn Kinder hervor, darunter Gertrud Heinzelmanns Großmutter Sophie und Großtante Salesia. Der wirtschaftliche Niedergang hatte mit der Vertreibung der Rietschi-Falcini begonnen, und die Tuberkulose, die im Doktorhaus wütete, tat ihr übriges.

      Die Großtante und ihr älterer Bruder Theodor sind die letzten, die den Namen Rietschi tragen. Im Dorf verkehrt Salesia nicht mit Krethi und Plethi, und sie legt großen Wert darauf, dass im Kreuzgang der Luzerner Hofkirche die Grabplatte mit den Namen ihrer noblen Vorfahren gut lesbar bleibt. Sie heiratete nie und verdiente ihren Lebensunterhalt als Dorflehrerin. Auf dem Klassenfoto von 1910 erhebt sie ihr Kinn stolz über der Kinderschar, und an ihrer Seite hockt artig Jagdhündin Herta. «Mit etwas aristokratischem Einschlag»9 umschreibt die Boswiler Chronik das «Dröhtli», das nach dörflichem Verständnis als verstiegenes Gehabe erschienen sein mag. Die Dorfjugend setzte der ersten Gemeindelehrerin zu, und sie musste die mittleren Klassen aufgeben, übernahm die Schulanfänger, «wo sie ihre Autorität durchsetzen und wo ihr einwandfreier Unterricht Erfolg bringen konnte», so die Dorfchronik. Ihre Großnichten waren noch nicht auf der Welt, als sie vorzeitig vom Schuldienst zurücktrat. Boswil ernannte seine ehemalige Lehrerin zur Ehrenbürgerin, und die Chronik schilderte sie als «pflichtgetreu, edelgesinnt» und bei Not hilfsbereit.

      Ihren Nichten erzählt Salesia aus dem Leben der Vorfahren, als wären es Märchen, und Gertrud bekommt vom Fragen nicht genug. Im Gymnasium oder in den ersten Studiensemestern beginnt sie sich politisch an den väterlichen Vorfahren zu orientieren, die mütterliche Seite interessiert sie kaum. Bei ihren Besuchen im Doktorhaus setzt sich Salesia im Salon auf die Bank des Kachelofens, kramt ein vergilbtes Foto der blaublütigen Falcini hervor, und die Nichte schreibt auf feine Bleistiftlinien in ihr Ahnenbuch: «Die Falcini. Florentiner-Aristokraten, entstammten einem Schloss der Toscana. Aus politischen Gründen mussten sie auswandern.» Dann wechselt sie von schwarzer Tinte zu roter und fügt hinzu: «Sie waren freisinnig.» Zum Foto von Salesia Falcinis Ehemann, dem liberalen Luzerner Stadtaristokraten, notiert sie (schwarze Tinte): «Niclaus Rietschi wirkte als Seminardirektor in Luzern.» Dann in roter Tinte: «Er war freisinnig.» Fortsetzung in Schwarz: «Als in Luzern die konservative Richtung die Oberhand gewann, musste er sein Amt niederlegen.»

      Die «gütigen Augen» und das «Dröhtli» der Großtante, ihre aufrechte, distinguierte Haltung, hätten ihr am meisten Eindruck gemacht, sagt Gertrud Heinzelmann. Und weiter hält sie fest: «Mir persönlich hat dies sehr viel bedeutet. Immer. Man hatte ein Qualitätsbewusstsein. Wenn man materiell nicht wählerisch ist, dann fällt man auch im Geist auf eine tiefere Sphäre hinunter. Das lässt sich nicht trennen.» Über sie selber wird es später in Boswil heißen: «Frau Doktor hat es im Köpfli», also aufgepasst, die ist Juristin und die spricht nicht mit jedem. Die Schweizer Schriftstellerin Laure Wyss – sie hatte in den Sechzigerjahren als Journalistin mit Gertrud Heinzelmann oft beruflich zu tun – sagt: «In Boswil war Gertrud Heinzelmann kolossal, und wenn sie in der Gartenlaube ihres Hauses saß, wirkte sie wie eine Gutsherrin.» In der Manier einer Junkerin notiert Gertrud Heinzelmann auf ein altes Foto, auf dem das Haus ihrer Vorfahren zu sehen ist: «Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

      An ihre Großmutter hat Gertrud Heinzelmann keine eigene Erinnerung. Am Arm der Mutter blickt sie als Dreijährige auf das Sterbebett der krebskranken Sophie Heinzelmann, geborene Rietschi. Der Vater wird ihren Nachlass bis auf zwei Fotografien und eine Postkarte aus Brüssel verbrennen, damit nichts an ihr Unglück und das ihrer Söhne erinnere. Eine der beiden Fotografien zeigt sie im mittleren Alter, mit demselben klaren und willensstarken Gesichtsausdruck wie ihre jüngere Schwester Salesia. Auch ihr Blick ist kein bürgerlicher, sondern einer, der von standesbewusster Höhe auf das Gegenüber hinab gerichtet ist. Im Gegensatz zu Salesia zeigen sich in Sophies Gesicht Härte, Resignation und verhaltener Spott.

      Sophie Rietschi hatte Charles Maximilian Heinzelmann, einen Deutschen mit Genfer Bürgerrecht, geheiratet. Nach unglücklichen Ehejahren reichte sie als eine der ersten Schweizerinnen die zivile Scheidung ein. Für eine Frau im Jahr 1890 ein kühner

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