Die Unbeirrbare. Barbara Kopp

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Die Unbeirrbare - Barbara Kopp

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unter keinen Umständen, auf keinen Fall. Berührungen am eigenen Körper hatten mich mit den erogenen Zentren, deren Reaktionen und dem schlechten Gewissen vertraut gemacht. Der Beichtspiegel des Katechismus verzeichnete unter den Sünden gegen das 6. Gebot unkeusche Berührungen, verbunden mit der auf eine schwere Sünde schliessenden Frage: Wie oft? Ich weiss nicht mehr, wie der religionslehrende Pfarrhelfer damals (zirka 1922/23) diese Sünde umschrieben hatte. Jedenfalls geriet ich in grosse seelische Nöte.»17

      Bevor sie zur Beichte gehen muss, fragt sie die Mutter, ob sie nicht eine Frau wüsste, die an Stelle des Pfarrhelfers hinter dem violetten Vorhang sitzen könnte. Bertha Heinzelmann verneint. Schließlich legt Gertrud wie alle Schülerinnen eine Beichte ab:

      «Da ich keinen Ausweg sah, einem Mann meine kindliche Sünde (oder was ich dafür hielt) gebeichtet werden musste, wählte ich den Pfarrer, der mich nicht kannte. Vor dessen mit violetten Vorhängen verhängtem Beichtstuhl kniete kaum ein anderes Kind meiner Klasse. Wie einen Brocken im Erbrechen spuckte ich den Satz aus, den ich wörtlich aus dem Beichtspiegel des vergissmeinnichtblauen ‹Kleinen Katechismus› übernahm.»

      Bei der Strohfirma Oskar Bruggisser, wo sich einst Hans Heinzelmann und Bertha Zimmermann von ihren Stehpulten aus verstohlene Blicke zuwarfen und am Lampenschirm zupften, läuft das Auslandgeschäft miserabel. Nach dem Ersten Weltkrieg bringt die Inflation Verlust um Verlust, und der «Strohbaron» verliert beinahe sein ganzes Vermögen. Hans Heinzelmann sieht sich nach einer anderen Arbeit um und wird bei «Zwicky Nähseide und Nähgarn» fündig. Die Familie verlässt 1924 Wohlen und zieht nach Wallisellen bei Zürich. Der Ortswechsel vom katholischen Freiamt in die Umgebung der Stadt, in der einst der Reformator Ulrich Zwingli gewirkt hatte, wird für alle zur Zäsur.

      Bertha ist fortan alleinerziehende Mutter, während Hans die meiste Zeit im Jahr für die Nähseidenfabrik unterwegs ist, winters auf Orienttour, sommers auf der Nordreise. Nach Neujahr lässt er Wallisellen jeweils hinter sich, besteigt in Italien das Schiff nach Ägypten, gibt in Kairo, Beirut, Jerusalem und Damaskus für die Kundschaft Einladungen und nimmt Garn- und Fadenbestellungen entgegen, oder weniger angenehm, er muss Schulden eintreiben. Vor Ostern erreicht er die Türkei, wo er sich in Izmir für die Rückreise einschifft. Im Frühsommer folgt eine kurze Kundenfahrt durch Holland, bevor er im Hochsommer zur großen Nordreise durch Dänemark, Schweden und Norwegen aufbricht.

      Am ersten Schultag in Wallisellen, als Gertrud Heinzelmann das Zimmer der vierten Klasse betritt, rufen einige Schüler sogleich: «Eine Rothaarige, eine Rothaarige und eine Katholische!» Die sonst so Schlagfertige steht mitten im neuen Schulzimmer und weiß nicht weiter. Alles sei ihr roh und primitiv erschienen, vor allem die Knaben, sagt sie. In Wohlen hatte sie die Mädchenklasse besucht, ein «ruhiges Gewässer», während die Knaben, wie damals in katholischen Gegenden üblich, in die Parallelklasse gingen.

      Nach diesem Schultag folgen weitere Erschütterungen, die nächste an einem Sonntag, als Bertha mit ihren Töchtern zur Messe geht. Nichts am Walliseller Gotteshaus erinnert an die Herrschaftlichkeit einer Freiämter Kirche, weder ist der Standort imposant, noch waltet im Innern ein besonderer Glanz: Da ist bloß die Nüchternheit eines Feuerwehrhauses. Das Dorf hatte seine ausgediente Sennerei für die «Zwecke des Feuerlöschwesens» umgebaut und zum Wohl des Gemeinwesens erweitert, mit einem kleinen «Arrestlokal» beispielsweise, das für leichte Fälle wie zur Ausnüchterung von Betrunkenen gedient haben mag. Der einstigen Sennerei wurde, so die Walliseller Gemeindechronik, ein «Schlauch-Tröckneturm» aufgesetzt, und unter diesem Turm, in dem die nassen Feuerwehrschläuche trocknen, beten und beichten sonntags Wallisellens Katholiken. Dies allerdings unterschlägt die Gemeindechronik, denn aus reformierter Sicht ist die katholische Religionsausübung nicht erwähnenswert. In der Gemeinde machen die Katholiken gerade 436 Personen aus, damals knapp ein Fünftel der Einwohnerschaft. Im Stammland des Reformators Zwingli sind die Katholiken einem Briefmarkenclub gleichgestellt, sie dürfen Versammlungen abhalten, aber im öffentlichen Leben sind sie rechtlos. Das wird bis 1963 so bleiben.

      Das Feuerwehrhaus dient noch einem anderen Zweck, den die «Geschichte der Gemeinde Wallisellen» ebenfalls unterschlägt. Die Bauern bringen ihr krankes und verunfalltes Vieh hierher. Gertrud Heinzelmann schildert dies an einem Walliseller Seniorennachmittag 1991 so: «Noch heute ist die unterste Türe angeschrieben mit ‹Notschlachtraum›. Das war damals schon so gewesen, die erste Türe war die Notschlachtung. Es kam ab und zu vor, dass gegen Ende der Woche hier sogenanntes Fallvieh oder Versicherungsvieh geschlachtet wurde. Am Samstag oder Sonntag sind dann die Katholiken durch die Türe nebenan zum Gottesdienst.»18 Für die Messe unter dem «Schlauch-Tröckneturm» kommt der Priester aus dem Nachbardorf und improvisiert zwischen notdürftigem Mobiliar: «Die katholische Kirche bestand aus einem Vorraum, von hier gingen ein paar Treppentrittli hinauf. Man kam in einen langgestreckten Raum, ich glaube heute sind hier Garagen, der Boden des Raumes war aus weißgetünchten Backsteinen. Drei Bänke ohne Rückenlehne standen hier, und es gab eine blinde Türe mit einem Gitter. Das war dann bei Bedarf der Beichtstuhl. Man hat die Türe einfach geöffnet, und oh Schreck, ohne Vorhänge, man konnte zuschauen, ad libitum, wenn man im hintersten Bank sass.» Samstags zieht ein Kind durch Wallisellen und sagt an jeder katholischen Haustüre sein Sätzlein auf: «Bitte kaufen Sie einen Backstein für die Kapelle!» Die Katholiken sammeln für den Bau einer eigenen Kirche, ein mühseliges Geldauftreiben, denn viele stammen aus ärmlichen Verhältnissen, zogen vom Hinterland ins industrialisierte, reiche Zürich und haben hier als Fabrikarbeiter, Handwerker oder Dienstmädchen ein mageres Auskommen. Kommt hinzu, dass sie wie alle Einwohner Steuern zahlen, aber als staatlich nicht anerkannte Glaubensgemeinschaft für den Kirchenbau kein Anrecht auf Steuergelder haben. Mit ihrem Geld finanzieren sie die Kirchen der Reformierten.

      Der protestantischen Mehrheit sind die katholischen Einwanderer fremd, ob sie nun aus der Innerschweiz oder aus dem Tirol stammen, und weil sie aus wirtschaftlich schwachen Regionen kommen, gelten sie als hinterwäldlerisch, in jeder Hinsicht rückständig und auf alle Fälle «sternehagelsaudumm». Da nützen der Familie Heinzelmann weder liberale Vorfahren, noch hilft ein Tropfen aristokratischen Bluts. Es spielt auch keine Rolle, dass Bertha und ihre Töchter in Wallisellen zu den «besser Frisierten» zählen, sich den Luxus von gepflegten Haaren leisten können und Kleider aus kostspieligerem Stoff tragen als viele Einheimische. Für die Reformierten sind sie schlicht «Katholen», auf die man grundsätzlich hinunterschaut. Gertrud Heinzelmann am Seniorennachmittag: «Wir waren ausgegrenzt gewesen in diesem reformierten Milieu, das sich für rechtdenkend hielt, etwas pietistisch. Wir standen irgendwie in einem Abstand.»

      Auf die damalige Zurücksetzung reagiert die elfjährige Gertrud in der Schule mit Leistung. Rückblickend sagt sie: «Ich wollte denen doch klarmachen, dass ich erstens einmal nicht nur gescheit bin, sondern wie sich dann sehr rasch zeigte, die Gescheiteste in der Klasse war.» Dank der traditionellen katholischen Mädchenerziehung kann sie, obwohl dazu wenig talentiert, selbst im Handarbeitsunterricht triumphieren: «In Wohlen hatten wir harten Handarbeitsunterricht, wir mussten lange Strümpfe stricken. Im Kanton Zürich hatten sie erst Waschlappen und solche Sachen genäht.» Zugeknöpft und elitär sei sie in der Schule gewesen, zwischen ihr und der Klasse habe eine Barriere bestanden, sagen einstige Mitschülerinnen übereinstimmend. Sie wird aber auch als auffallend mutig und selbstbewusst beschrieben, als eine, die sich zu Wort meldete und gegenüber dem Lehrer die eigene Meinung vertrat.

      Die gesellschaftliche Benachteiligung stärkt Gertrud Heinzelmann, sie lernt sich zu behaupten und wird kämpferisch. In Wallisellen beginnt sie auch, sich gegen die Diskriminierung in der eigenen Konfession aufzulehnen. Im Feuerwehrhaus fasziniert sie dieses geheimnisvolle Geschehen am Altar, das kaum zu sehen ist, weil der Priester und seine Diener dabei den Gläubigen die Rücken zukehren. Sie beneidet die Ministranten, die beim Altar stehen und dem Priester zusehen dürfen. Hingegen ist das Beichten an der blinden Türe, ohne Schutz der violetten Vorgänge, für Gertrud Heinzelmann noch belastender, als es schon in Wohlen war. Als Schülerin zum Religionsunterricht und Messebesuch verpflichtet, tut sie in den höheren Schulklassen, was damals unter Männern weit verbreitet ist. Sie besucht, wenn sie zur Beichte muss, eine andere Kirche, wo der Priester

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