(Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti. Группа авторов

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(Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti - Группа авторов Orbis Romanicus

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Santa María wird Moncha geboren und stirbt auch dort. Auch sie machte eine Reise, nach Europa, um das Abenteuer des Heiratens zu erleben, das scheiterte und dazu führte, dass die Protagonistin im traditionellen, in der Institution der Ehe verlangten Übergang von einem Mädchen zu einer Frau, in der Verlobung hängen bleiben, und dort zu sterben, um in ihrem Leben alleine in der Phantasie einer Reise nach Europa eine Ausflucht erlebt zu haben. Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, aus der Nähe oder aus der Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Santa María ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu "Esbjerg, en la costa" (1946), dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der "colonia suiza" (VB I, cap. II, 429) aus zu bewältigen: "[e]n los bordes de Santa María está La Colonia, probablemente de suizos"4. Santa María ist als Ort schließlich kaum zu fassen, auch nicht als Utopie markierbar5. Die Semantik der Namensgebung spielt dafür eine eminente Rolle, die sich einfügt in den symbolischen und intertextuellen Charakter vieler Eigennamen, die Onetti seinen Figuren und Schauplätzen gegeben hatte, ob Díaz Grey, Gertrudis und Julio Stein oder Moncha.

      Je mehr Bruchstücke, Nachrichten und Eigenschaften über Santa María der Leser in einer Collage seiner Lektüren zusammenzusetzen vermag, desto undeutlicher wird die Gesamtgestalt eines Ortes. Vielmehr gerät Santa María zur Bezeichnung einer Ortlosigkeit und transición, die sich nicht in Terminologien des Raumes fassen lässt, da sie mehr auf solche der Bewegung, der Heterotopie und der Deterritorialisierung angewiesen ist.6

      III.

      Die Santa María als eines der drei Schiffe der Flotte der Seefahrer, die mit Cristóbal Colón, Vicente und Martín Alonso Pinzón zur Entdeckung einer Route nach Ostasien im Sommer 1492 aufgebrochen waren, ist kulturgeschichtlich in Vergessenheit geraten und überdeckt worden von der Beständigkeit der unübersichtlichen Vielzahl lateinamerikanischer Ortschaften, die als Allerweltsstädte aus dem kolonialistischen Gründerwahn hervorgegangen waren. Juan Carlos Onetti erinnert mit seinem Santa María an diese historische Überfahrt über das Meer und an das Schiff, auf dem die Diarios de a borde1 geschrieben wurden, in welchen Kolumbus den reyes católicos Bericht erstattete über die täglich neue Ungewissheit seiner Reise, ganz ohne die notwendige Täuschung seiner Mannschaft über eine bald planlose Navigation und seine Ahnungslosigkeit, ein Ziel zu erreichen, zu verheimlichen. Ganz wie die Täuschung seiner Leser dem Autor und Erzähler Onetti und seinem in der Fiktion eingesetzten Akronym "J.C.O." (NRo, 181) ein Vergnügen scheint, entspricht die Zerstörung des fiktiven Santa María in der Feuersbrunst in Déjemos hablar al viento (1979) dem historischen Schicksal der Santa María, die als Karavelle zwar akribisch festgehalten, gleichwohl allein in graphischen Rekonstruktionen auf der Grundlage von historischen Dokumenten überliefert ist.2

      Dass die cuentos Onettis sich auch aus einer ausschließlich nostalgischen Perspektive auf die Seefahrten dieser legendären Flotte erschließen lassen – aus der imaginierten Erinnerung an einen vermeintlich letzten präkolonialen Moment – kann durch eine Lektüre von La muerte y la niña (1973) unterstützt werden. Gibt der Leser der titelgebenden niña eine Majuskel, so wird auch dieses, bald vom Ehepaar Goerdel und Hauser ungewollte, bald an die vermeintliche Tochter von Díaz Grey erinnernde Mädchen, als Name und Teil der Flotte einer Seereise, an der keine Frauen beteiligt waren, ins Gedächtnis gerufen.

      In dem Versuch, Orte und Geographien zu entfestigen, diese mit Figuren zu verkoppeln – das niña-Mädchen in das Niña-Schiff zurück zu verwandeln und Santa María neu auf das Meer zu verlagern – und loci universal miteinander zu verbinden, um ihnen eine Dynamik zu verschaffen, beruht die singuläre Originalität der Texte von Onetti, auch wenn es in der Literatur Werke gibt, die eine vergleichbare Motivik darstellen. Eine ähnliche Auflösung gewohnter, topographisch bestimmbarer Festsetzungen von Orten – einhergehend mit der Beschreibung von Exilen, Migrationen und der schwer erreichbaren Möglichkeit von Sesshaftigkeit zeigte der Roman von Anna Seghers, einer zeitgenössischen Autorin von Juan Carlos Onetti. Auch in ihrem in den 1940er Jahren verfassten Roman Transit wird der Schauplatz der Handlung, Marseille, an dem die notwendige Flucht aus Deutschland und Frankreich zunächst stockt, um über das Meer nach Lateinamerika zu gelangen, bereits auf dem Landweg als unbefestigt flottierendes Territorium beschrieben. Die in Marseille täglich zahlreicher eintreffenden Emigranten, die in Transit zusammenkommen und sich von diesem äußersten Randstück Europas ohne gültige Papiere erst einmal nicht weiterbewegen können, insbesondere die Ich-Erzählerin, erfahren die Stadt bereits als das Meer, auf dem man sich bewegt und einer Orientierungslosigkeit ausgesetzt ist. Ihre Wahrnehmung und die Ortlosigkeit der Protagonisten geht auf die Topographie über.

      Ich hatte selbst beim Einschlafen die Empfindung, auf einem Schiff zu sein, nicht, weil ich soviel von Schiffen gehört hatte oder eins benutzen wollte, sondern weil ich mich schwindlig und elend fühlte in einem Gewoge von Eindrücken und Empfindungen, die ich keine Kraft mehr hatte, mir zu erklären. Auch drang von allen Seiten ein Lärm auf mich ein, als schliefe ich auf einer glitschigen Planke inmitten einer betrunkenen Mannschaft. Ich hörte Gepäckstücke rollen und krachen, als lägen sie schlecht verwahrt im Lagerraum eines vom Meer geschüttelten Schiffes.3

      In reziproker Weise wird das Mittelmeer in jüngeren Studien als ein von Ländern verschiedener Kulturen begrenzter und abgeschlossener Raum erforscht und entsprechend wird, in einer expliziten Unterscheidung von der Thematik der "Mittelmeerkulturen" oder der "Welt des Mittelmeers", von einem "Mittelmeerraum" gesprochen.4 So definiert David Abulafia seine Studie zum Mittelmeer als eine "vertikale Geschichte des Mittelmeers"5 und beginnt sie mit der ausführlichen Erinnerung an die mannigfaltigen Namen, mit denen es in den verschiedenen Ländern und durch verschiedene Epochen bezeichnet wurde. Édouard Glissant schlug in einer Poétique de la Relation als poetisches Konzept eine barque ouverte vor, welche das Meer zum genuinen locus poeticus macht und damit an das Homerische Epos anschließt.6 Die Beweglichkeit von Orten mitsamt den Phantasien der Einheimischen bestätigt zuletzt die Werkbiographie von Juan Carlos Onetti leibhaftig, der Santa María in einer Art von Reimport der heiligen katholischen Conquista im 20. Jahrhundert nach Madrid zurückführte, in das er 1975 vor der lateinamerikanischen Diktatur floh.

      So bemerkte Friedrich Ani in einer Rezension zu einer Hommage von Mario Vargas Llosa auf Onetti treffend, dass, als der Autor der Militärdiktatur in Uruguay den Rücken gekehrt hatte und nach Madrid übersiedelte, seine fiktiven Protagonisten, die Sanmarianer, ihm gleichwohl bis zu seinem letzten Roman treu blieben.7 Friedrich Ani nutzte seinerseits für seine Prosa in einer Erzählung in einem mimetisch den cuentos von Onetti nachahmenden Verfahren Santa María als Reiseziel der Unbehausten. Santa María ist kein absolut definierbarer Ort, er wird in den Onetti-Lektüren allein perspektivisch durch seine Zugehörigkeit bestimmbar.

      Die über das gesamte Onetti'sche Werk absichtlich willkürliche und minimalisierte Dissemination eines zu imaginierenden Santa María gibt Anlass, über diesen fiktiven Ort als ein Konstrukt der Bewegung und – durch seine Bezüge zu anderen, bald von Europa aus eng benachbarten, bald lateinamerikanischen, bald transkontinentalen Orten – als beständig flottierendes Universum nachzudenken, in dem sich monadisch barocke Gestalten aus verschiedenen Epochen und verschiedenen Zeiten treffen, von verschiedenem Geschlecht und von verschiedenem Alter, die sich jeweils in einem gemeinsamen Prozess, bald der Veränderung, bald der Dekomposition, des Verfalls oder des Verschwindens befinden, deren Zeuge der Leser wird.

      Literaturverzeichnis

      Primärliteratur

      Bartolomé de las Casas: Diario del primer y tercer viaje de Cristóbal ColónObras completas Bd. 14, ed. Consuelo Varela, Madrid: Alianza Editorial 1989.

      Carpentier, Alejo: Los P asos Perdidos, Madrid: Alianza 2014 [1953].

      ––– : Die verlorenen Spuren (1953 span.), transt. Anneliese Botond,

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