Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

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Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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gefühlte Wahrheit jedes einzelnen in digitalen Kommunikationsprozessen involvierten psychischen Systems, der innerhalb der Blase auch kein Außen anderer Meinungen mehr entgegentritt. Das Internet und die sozialen Medien übernehmen dabei mit zunehmender Dominanz eines nicht mehr funktionssystem- sondern nunmehr filterblasenspezifischen operativen Sinns die Konstruktion der gesellschaftlich wahrgenommenen (und wahrnehmbaren) Wirklichkeit und intensivieren dabei Luhmanns prominent zu Beginn und Ende seines Buches über Die Realität der Massenmedien platzierte skeptische Diagnose: »Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] [W]ie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?« (1996: 9 und 215)

      Die Antwort ist: schwer. Allerdings gibt es, wie geschildert, keine Alternative zu diesen prinzipiell defizitären Informationen über die Realität. Es muss also darum gehen, die Mittelbarkeit aller ›Wahrheiten‹ anzuerkennen im Sinne einer Kalkulation der für Informationen konstitutiven Einheit der Differenz von operativem Sinn im jeweils gegebenen Kommunikationszusammenhang einerseits und ihrer Bedeutungsebene andererseits. Damit verschiebt sich der Interpretationsprozess von seinem traditionellen Fokus auf Repräsentation/Bedeutung hin zur Performativität. Gefordert ist hier, und dies gilt sowohl für die (Geistes-)Wissenschaften als auch für die (kritische) Öffentlichkeit, ein neues Verständnis von Interpretation, das sich an der durchaus vorhandenen Wortbedeutung im künstlerischen Bereich orientiert (die Interpretation eines Dramas im Theater etwa im Gegensatz zu der eines Lesers). Steven Connor hat dies in einem bemerkenswerten Aufsatz auf den Punkt gebracht:

      Now interpretation is part of a general practice of putting-into-practice […] This new, expanded form of interpretation does not say what things say, but shows how they work, which is to say, how they might be worked out. […] The purpose of playing the game is not to show what the game means […], but to explore what it makes possible. […] Interpretation has been drawn into a general performativity, in which informing interacts with performing […] Interpretation is no longer to be thought of as the solving of a riddle, or the cracking of a code […], but rather the playing out of a game, the running of a programme, the perfecting of a routine, the exploiting of a potential. […] The pursuit of interpretation now asks, not what does an object mean, but what are the implications of what it might mean – what does what it means mean? (Connor 2014: 184–186)

      Im Lichte eines solchen Verständnisses von Interpretation wird deutlich, dass der von den Kritikern des Konstruktivismus aufgemachte Gegensatz von ›Konstruktion‹ und ›Realität‹ nicht haltbar ist, weil eben nur die Operation der Konstruktion real ist, ihr Ergebnis aber immer Fiktion im Sinne einer Realitätsverdoppelung. Der Gegensatz wird damit performativ, er hat das Ziel, die eigene Konstruktion »als ›natürlich‹, als ›gegeben‹, als ›Tatsache‹« auszugeben (Sasse und Zanetti 2017) und sich damit vor dem Hintergrund, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist« (Esposito 2007: 71), scheinbar unwiderlegbar ins Recht zu setzen.

      Die Literaturwissenschaft ist angesichts ihrer langen Erfahrung mit Phänomenen der Realitätsverdoppelung bestens platziert, um im Verbund mit anderen Geisteswissenschaften der Komplexität der Dinge im Lichte dessen, was über sie behauptet wird, auf der Spur zu bleiben. Es ist allerdings eben diese Komplexität und (mindestens) Doppelbödigkeit der Phänomene zwischen operativem Sinn und den mit ihm verwobenen Bedeutungen, die eine Einspeisung derartiger Analysen in den breiteren öffentlichen Diskurs so schwierig macht, einen Diskurs, in dem es, wenn überhaupt, nur unter anderem um Wahrheiten geht. Stattdessen ist dieser Diskurs immer überformt von Machtansprüchen und/oder Befindlichkeiten, denen die Wissenschaft jenseits von technologischen Verwertbarkeiten wenig zu bieten hat, zumal ihre Einsichten sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften immer abstrakter werden und sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit von Nicht-Wissenschaftlern entfernen. Die Rückkehr in den öffentlichen Raum führt dann häufig in die Banalisierung und Trivialisierung. Auf seinem soeben erschienenen Album Dark Matter erfasst der amerikanische Satiriker Randy Newman diese Entfremdung sehr schön in seinem einer Art Mini-Oper gleichenden achtminütigem Eröffnungstitel ›The Great Debate‹, in dem ein Conferencier Wissenschaftler in einem (sehr amerikanischen) Unterhaltungssetting dazu anhält, die Welt zu erklären:

      NARRATOR: Dark matter, go ahead

      SCIENTIST: Dark matter is out in space

      It’s 75 % of everything

      NARRATOR: Just a moment, sir

      Do yourself a favor

      Use our music

      People like it

      And your music is making people sick

      No? Allright, it’s a free country, go ahead

      Dark matter

      What is it?

      SCIENTIST: We don’t know what it is

      But we think it’s everywhere

      NARRATOR: I’d like to take a look at it

      Can we get some down here?

      SCIENTIST: Ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha

      Of course not!

      NARRATOR: Let me get this straight

      You don’t know what it is

      You don’t know where it is

      And we can’t get any

      Put that to the one side

      Let’s put the Lord, faith, eternity,

      whatever on the other side

      A show of hands?

      [CHORUS]: I’ll take Jesus

      I’ll take Jesus

      I’ll take Jesus everytime […] (Newman 2017)

      Angesichts dieser Entfremdung wird es in Zukunft darum gehen, die für die moderne Kultur konstitutiven Legitimationsmechanismen für Aussagen über die Wirklichkeit (Wissenschaft, Literatur, Massenmedien) aus der Welt des Buchdrucks in die digitalisierte Welt zu überführen. Dafür gibt es angesichts des selbstorganisierenden Charakters der (post-)modernen Kommunikation keine Patentrezepte, aber es gilt, eine kritische Beobachtungsperspektive zu wahren, von der aus sich abzeichnende Ordnungsmechanismen frühzeitig identifiziert und womöglich in ihrer Funktionalität unterstützt werden können. Eine medien- und kulturwissenschaftlich informierte Literaturwissenschaft erscheint dabei als Beobachtungs- und Reflexionsinstanz unverzichtbar.

      Literatur

      Assheuer, Thomas (2017). ›Die Hippies sind schuld.‹ DIE ZEIT, 13 (23.März), 37.

      Bachmann-Medick, Doris (2006). Cultural Turns: Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt.

      Beck, Ulrich (2016). Die Metamorphose der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

      Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1966). The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge. Garden City, NY: Anchor Books. Dt. Ausgabe:

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