Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

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Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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man nicht die Welt, sondern die Beobachter zum Bezugspunkt macht.« (73)

      In anderer Worten: Was real ist, ist die Operation der Beobachtung, nicht ihr Inhalt, der immer Re-Präsentation der Wirklichkeit bleibt und niemals zur Realität selbst in Kontakt steht. Der Roman hat diese Einsicht, nicht zufällig parallel zum Linguistic Turn der Philosophie, im Modernismus in gesteigerte Selbstreferentialität linguisitischer, narrativer und diskursiver Art umgesetzt, womit sein Akzent sich von Repräsentation auf Performativität verlagerte, ohne dass deshalb die Repräsentation völlig aufgegeben wurde, was ja angesichts der Zeichenhaftigkeit von Sprache auch nur schwer zu erreichen ist. Der Roman erfüllt zudem bis heute seine im 18. Jahrhundert angelegte Funktion einer Überführung von privater individueller Erfahrung in den Bereich der Öffentlichkeit, auch wenn er angesichts der Verlagerung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von der Welt des Buchdrucks in eine Welt der elektronischen und digitalen Medien zunehmend marginalisiert erscheint. Er ist damit das früheste und bis zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich komplexeste Medium für den Umgang mit dem, was Fritz B. Simon ›weiche Realitäten‹ nennt, »bei denen die Beobachtung zumindest das Potential hat, den beobachteten Gegenstand zu verändern«: »Wer gesellschaftliche Verhältnisse […] in einer bestimmten Weise beschreibt, verändert sie (zumal diese Beschreibung, wenn sie kommuniziert wird, Element dessen ist, was beschrieben wird)« (Simon 2017; ›harte Realitäten‹ sind demgegenüber »Gegenstände […], die sich durch die Tatsache des Beobachtetwerdens wenig beeindrucken lassen«, wie z.B. Sonne und Sterne). Als reale Operationen sind also Konstruktionen insbesondere ›weicher Realitäten‹ »nicht nur selbst real, sondern haben auch reale Auswirkungen, sie sind […] ›performativ‹« (Sasse und Zanetti 2017). Und dasselbe gilt, womöglich in etwas geringerem Ausmaß, auch für Konstruktionen ›harter Realitäten‹, die im Kontext der Naturwissenschaften als ›Wirklichkeitserzählungen‹ kommuniziert werden (vgl. z.B. Harré 1990, Brandt 2009), so dass auch eine großangelegte Geschichte der Objektivität in ihrem letzten Kapitel letztlich eine Akzentverschiebung von der Repräsentation zur Präsentation konstatiert (Daston und Galison 2007: 385)

      Mittelbare Wahrheiten

      Mit all dem zeigt sich, dass Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen in Kombination mit den skizzierten literatur- und kulturgeschichtlichen Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Stichwort von der ›Realitätsverdoppelung‹ (vgl. dazu auch Luhmann 2000: 58–64), das wiederum im Zusammenhang mit dem systemtheoretischen Verständnis von ›Sinn‹ zu sehen ist:

      Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt. (Luhmann 1997: 44)

      Ganz im Sinne der ›Realitätsverdoppelung‹ existiert ›Sinn‹ nun aber in zwei Dimensionen: Obwohl es nicht (immer) notwendig wäre, wird der der Welt im systemtheoretischen Verständnis innewohnende operativ-prozesshafte Sinn von Menschen unablässig mit ›Welt‹ (Repräsentationen, Zeichen, Bildern, Sprache) gefüllt. Für die ›Welt‹ ergibt sich durch die in dieser Dimension gegebenen Speicherfunktion bei gleichzeitiger Simulation von Weltreferenz eine Suggestion von Bedeutung, die häufig für wahr im Sinne der Korrespondenztheorien genommen wird, obwohl sie doch bestenfalls wahr im Sinne der Kohärenz-, Konsens- oder Diskurstheorien der Wahrheit ist. Auch über Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung hinaus liegt somit in der modernen Kultur eine Realitätsverdoppelung vor, die es schwer macht, jenseits einer Anerkennung dieser konstitutiven Differenz zwischen Welt und ›Welt‹ von der Wahrheit zu sprechen. Aus dieser Perspektive gibt es immer mindestens zwei Wahrheiten, nämlich einerseits die operative Sinnhaftigkeit des (evolutionären) Vollzugs der Welt, wie sie sich in den fortlaufenden Systemoperationen auf organischer, psychischer und sozialer Ebene manifestiert, und andererseits den Reim, den sich Menschen in Form von Sinn (normale Sprachverwendung) und Bedeutung darauf zu machen vermögen.

      In jüngerer Zeit scheint zudem die Kluft zwischen operativem Sinn und menschlichem (Be-)Deutungsvermögen größer zu werden, wobei Letzteres gegenüber Ersterem in die Defensive gerät. So nennt etwa Armin Nassehi die beiden Dimensionen in seinem bezeichnenderweise Die letzte Stunde der Wahrheit betitelten Versuch, systemtheoretisch geschultes komplexes Denken in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, »Zwei Welten« und fragt provokativ: »Gibt es analoges Leben in digitalisierten Welten?« (2015: 159) In der Tat lassen sich die spezifischen Varianten der Realitätsverdoppelung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart verfolgen, wobei wiederum der Mediengeschichte eine zentrale Rolle zukommt. Aus der Linie Aufklärung – ›harte Realitäten‹ – Wissenschaft – Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen dann die digitalisierten Welten der Gegenwart hervor, die erahnen lassen, dass die moderne Welt des Buchdrucks und die damit einhergehende Buchkultur nunmehr in der Tat durch eine postmoderne Algorithmuskultur (Striphas 2015) abgelöst wird (oder wurde), in der ›die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit‹ (Seyfert und Roberge 2017) dominiert. Die Linie Romantik – ›weiche Realitäten‹ – Literatur – Roman hingegen bleibt dem analogen Leben verpflichtet, das zunehmend in die Defensive gerät, und neben der Literatur und der Literaturwissenschaft trifft dies auch die Geisteswissenschaften insgesamt.

      Was bleibt ist ein Dilemma: Elena Esposito bemerkt trocken, dass »die Realität […], wie wir inzwischen wissen, in der Regel wenig realistisch« ist (2007: 76), und dennoch sind, wenn man so will, ›realistische‹, d.h. komplexitätsreduzierende und an menschliche Erfahrungshorizonte angepasste Zugänge der einzige der breiteren Öffentlichkeit kommunizierbare Weg, sich der Wirklichkeit über ›wahre‹ Aussagen anzunähern. Das moderne Wissenschaftssystem versuchte hier im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft Abhilfe zu schaffen, indem es ›Objektivität‹ operativ-prozessual absicherte, damit die moderne Gesellschaft weiterhin mit ›ontologischen‹ Gewissheiten versorgt werden konnte. Gleichzeitig aber vollzog das moderne Wissenschaftssystem selbst die von Luhmann konstatierte Umstellung auf ein konstruktivistisches Selbstverständnis. Darüber hinaus generierten andere sich ausdifferenzierende Kommunikationssysteme ihre eigenen Rationalitäten und Wahrheiten, die jeweils auf der systemisch operativen Ebene sinnhaft sind und systemspezifische Anschlussfähigkeit gewährleisten, während sich der semantische und weltanschauliche Horizont der modernen Gesamtgesellschaft durch diese Spezialisierungen jedoch zunehmend differenzierte und fragmentierte. Dabei ist die jeweils systemspezifische Kommunikation in unterschiedlichem Maße sprachgebunden und damit bedeutungsgeladen: Wissenschaftliche Kommunikation generiert ›objektive‹ Wirklichkeitserzählungen, literarische Kommunikation eher subjektive, und die Massenmedien schließen sich scheinbar an erstere an, bedienen dabei aber immer auch subjektive Sinndimensionen. In anderen Kommunikationssystemen ist demgegenüber die repräsentative Dimension eher sekundär und operative Faktoren rücken in den Vordergrund, wie die Verhandlung von Macht und Eigentum und Recht im Politik-, Wirtschafts- und Rechtssystem (Haben oder Nicht-Haben, das ist dort die Frage). Alle diese Systeme generieren darüber hinaus ihre eigenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die den Zugang zur öffentlichen Kommunikation durch Gatekeeping-Funktionen regulieren und verknappen.

      Was gegenüber dieser Beschreibung der buchdruckbasierten modernen Gesellschaft gegenwärtig wirklich neu zu sein scheint, ist die mit der durchgreifenden Digitalisierung einsetzende De-Differenzierung: Jedermann hat heutzutage über die sogenannten sozialen Medien Zugang zum öffentlichen Raum des Internets, der sich aber entgegen aufklärerischer Ideale und früher Interneteuphorie nicht zu einem basisdemokratisch vernunftgeleiteten Verhandlungsfeld entwickelt hat, sondern vielmehr in einem neuartigen Differenzierungsprozess Filterblasen (Pariser 2012) mit ihren jeweils eigenen Wirklichkeitserzählungen (Tophinke 2009) generiert, in denen sich Meinungen nahezu in Echtzeit und unterstützt von algorithmischen Steuerungsprozessen

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