Literaturwissenschaften in der Krise. Группа авторов

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Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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der Welt vorliegt, sondern auch weil es sowohl eine allgemeingültige wie auch eine partikulare Antwort gibt, die sich (zumindest teilweise) gegenseitig ausschließen. Eine solche Ausschließung befördert die ästhetische Experimentierfreude mit Ausdrucksformen des Menschen und ihrem Spiel mit den Grenzen menschlicher Erscheinung – oder mit der Partikularität menschlicher Erscheinung. Dieses Spiel mit Grenzen und Partikularitäten ist jedoch noch solange nicht gänzlich entfaltet, bis es in einen analytischen Metadiskurs mündet. Ästhetische Repräsentationen von Menschlichkeit, von Unmenschlichkeit und menschlicher Differenz und Vielfalt müssen notwendig offen bleiben, damit sie analysiert werden können um so zurück auf die Theorie, auf den Metadiskurs, auf die Philosophie zu verweisen. Und so schließt sich der Kreis.

      Sowohl Literatur und Metadiskurs wie auch Ästhetik und Philosophie sind eng verbunden mit Diskursen und Institutionen, die auf Verhandlung und Interpretation basieren. Diese Interaktion generiert und unterhält mein Forschungsfeld. Die Bezeichnung meines Jobs ist zwar ›Literaturprofessor‹, aber ich untersuche eben diese sich gegenseitig konstituierende Beziehung, in der die Literatur der Philosophie Bilder bereitstellt, um Licht und Form in die unklaren, schattigen Konzepte zu bringen, wenn die philosophische Sprache die Welt nicht länger erklären kann; und die Philosophie stellt der Kunst im Gegenzug eine analytische Sprache bereit, um ihre Bilder zu konzeptualisieren, um zu sagen, was die Kunst unfähig war zu äußern. Die Romantiker nannten das Poiesis. Wir mühen uns seit einiger Zeit ab, den institutionellen Raum und Rahmen zu finden, in den diese Beziehung wirklich gehört. Manchmal nennt man ihn Vergleichende Literaturwissenschaften, manchmal Literaturtheorie, Literaturwissenschaft, oder einfach nur Theorie. Bemerkenswerterweise hat dieses zentrale Forschungsfeld an Universitäten größtenteils noch immer kein Obdach gefunden.

      3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise

      Ein Versuch

      I-Tsun Wan

      Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.

      Heinrich von Kleist an Rühle von Lilienstern, November 1805 (Kleist 92001: II, 761)

      Krise und Literatur

      Zweifelsohne befinden wir uns in einer krisenbehafteten Welt/Epoche – wenn nicht gar mitten drin in einer Krise. Gegen diese totalitäre Wir-Aussage hätte sich früher wohl einwenden lassen, dass man sie nur aus einer ***-zentralistischen Perspektive konstatiert und die Heterogenität der Welt willkürlich-wissend ignoriert. Infolge der Globalisierung hat die Welt allerdings eine gewisse Homogenität erlangt, die diese totalitäre Aussage, wenn auch nicht ermöglicht, so doch voraussetzt. Je stärker die Welt globalisiert wird, desto weniger utopische En- bzw. Exklaven bleiben als ›Nicht-Ort‹ übrig. Folglich geht es, wenn heutzutage die Welt als in einer Krise befindlich beschrieben wird, um eine totalitäre Krisensituation, sei es eine Militär-, eine Klima-, eine Infektionskrise oder eine Krise durch einen Computervirus usw. Im etymologischen Sinne bedeutet die Krise eine »entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u.ä. mit einander streiten« (DWB, Bd. 11, Sp. 2333). Gerade in solch einem Zustand ist jede Entscheidung bzw. Orientierung fragil: Während man um Fassung ringt, bleibt man fassungslos, indem jede Fassung im nächsten Augenblick von einer neuen Situation bestritten werden kann.

      Diesbezüglich dient uns das Europa um 1800, als sich die Europäer in einer ›europäisierten‹ Krise infolge von Napoleons Politik sahen, als Miniatur einer krisenhaften Welt. Im Hinblick auf Napoleons unaufhaltsamen Siegeszug schrieb Heinrich von Kleist im November 1805 an seinen Freund Rühle von Lilienstern: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben« (Kleist 92001: II, 760f.). Und am 12. November 1805 schrieb Johann Friedrich Cotta an Goethe: »Das HauptGewitter wäre in gegenwärtigem Augenblik gewiß beschworen, wenn aber die Besorgung mancher, daß Preußen noch gegen Frankreich sich erklären werde – welches ich der Inconsequenz des bisher consequent gehandelten Ministeriums wegen nicht glauben kann – wirklich einträffe, dann fürchtete ich eine totale Umkehrung der Welt« (Kuhn 1977: I, 131). Es scheint, als wäre niemand in der Lage gewesen, dem Gravitationsfeld dieser »totalen Umkehrung« der Welt respektive Europas zu entfliehen. In diesem Ausnahmezustand wagte auch Cotta, »Bonaparte unter den Buchhändlern« (Fehling 1925: 488), keine souveräne Entscheidung zu treffen, sondern hielt sich allenfalls an seine resignative Maxime: »Hoffen wir das Beste und seyen wir für das Schlimste gefaßt! Diß in der That darf in diesem Augenblick nicht blosser Wahlspruch für mich seyn, sondern Norm meines Handelns« (Kuhn 1977: I, 131). Es ist nicht verwunderlich, dass Kleist, der sich zeit seines Lebens wieder und wieder in einer Krise befand und sich damit abfinden musste, die »Einrichtung der Welt« in seiner Erzählung als »gebrechlich« darstellte (Kleist 92001: II, 15 u. 143), in der jede Krise zur Maßnahme und jede Maßnahme wiederum zur Krise führt – ein Teufelskreis, der Kleists literarische Welt prägt.

      Insbesondere der Fall Kleist zeigt eines: So schwierig die Zeit und somit der Buchmarkt auch waren (vgl. Fischer 2014: 290), so wenig ließen sich die literarischen Praktiken beschränken. Dies lässt sich wohl auf ein fundamentales Bedürfnis des Menschen zurückführen, nämlich das Bedürfnis zum Erzählen. Man versucht die Situation durch die narrative Praktik zu begreifen, um zuerst einen Begriff und dann eine Orientierung und Konzeption zu bekommen. Ohne diesen ›Standpunkt‹ würde man sich nicht nur in der Verwirrung verlieren, sondern sich vielmehr in der Verwirrung auflösen. Den roten Faden in der Hand zu halten, ist also die Aufgabe und zugleich der Zweck der Geschichtsschreibung, und zwar der Geschichtsschreibung im doppelten Sinne.

      Es geht zunächst um die Geschichtsschreibung im Sinne der Historie, die sachlichen Bericht mithilfe von (signifikanten) Zahlen und (prominenten) Namen erstattet und somit die historischen Geschehnisse zu rekonstruieren versucht. Aus diesem Versuch entsteht nicht nur eine Rekonstruktion, sondern zugleich auch die Legitimation einer Orientierung stiftenden Konzeption, einer programmierten Macht über die Verwirrung und der Macht per se. Diese Geschichte dient also vor allem demjenigen, der über die Macht verfügt. Aber alle anderen, die die historischen Geschehnisse erleben, miterleben oder überleben, werden hingegen dieser einen Geschichtsschreibung respektive der Macht unterworfen und geraten in Vergessenheit – wie namenlose Versatzstücke. Außerdem leiden Zahlen und Namen nicht, haben deshalb auch kein Mitleid. Zwar vermögen diese Daten etwas dem Anspruch dieser Geschichtsschreibung: »Zur Sache!« entsprechend darzustellen, dies ist jedoch nicht hinreichend, um eine Geschichte mit Blut und Fleisch zu schreiben. Für die leidenden anderen ist die Historie, die sich auf die objektive Zweckmäßigkeit richtet, keine befriedigende. Man muss in der Geschichte auch schreien, weinen, heulen, lachen, sich totlachen und weglachen können.

      Man braucht also eine andere Geschichtsschreibung, die die historischen Geschehnisse auf intuitive Weise umgekehrt als Versatzstück benutzt, damit man in diesem Spiel der Macht auch eine autonome Rolle übernehmen kann/darf und nach der Ohnmacht wieder zu sich selbst findet. Es ist die aus der Historie ausdifferenzierte Historia, die die historischen Geschehnisse allein der subjektiven Zweckmäßigkeit gemäß behandelt und die Phantasie zulässt, um die Leerstellen zwischen den Zeilen und den Zahlen und den Namen mit Blut und Fleisch zu füllen. Nicht (nur), dass die Historia in Anlehnung an die Historie ihre Legitimation und notwendige Authentizität gewinnt, sondern (auch) dass die Historia der Historie Leben einhaucht: Sie beschwört die leidenden, vergessenen Seelen herauf und bietet eine andere, menschlichere Konzeption, die das Leiden und das Leben erkennt und anerkennt. Sie eröffnet einen utopischen Raum, einen Nicht-Ort an dem Ort, damit das menschliche Leben mehr ist als bloß ein Name und ein paar Zahlen auf dem Grabstein, nämlich eine Erzählung mit einem mit Leben bestückten Inhalt.

      Indem diese Geschichtsschreibung nicht nur das Leben erzählt, sondern auch zugleich das Leben erzählend erschafft, ist sie im Wesentlichen eine Geschichtsschreibung

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